Es ist der klassische Morgen nach einem One-Night-Stand im Vollrausch. Marion S. steht in Slip und BH in ihrer Küche und versucht sich zu erinnern. War da ein Mann? Oder doch nicht? Sie testet die Hände der umstehenden Kollegen – kein bekanntes Grabschgefühl. Aber woher kommt dann das Kondom? „Graz Alexanderplatz“ verweist schon im Titel auf sein Vorbild, doch Franz Biberkopf ist hier weiblich und die Metropole zur Provinz geworden. Die Gruppe „Theater im Bahnhof“ nutzt Döblins Romanstrategien und entwickelt daraus die Studie einer Frau. Marion S. driftet als gelernte Architektin mit gescheiterter Liebesbeziehung von Billigjob zu Billigjob. Sie trifft sich mit anderen Frauen, erinnert sich an ihre Grundschulzeit, wandert durch die Stadt, hat einen Unfall, wird ausgenutzt – alltägliche Vorgänge, die in kurzen Monologen verdichtet (Text: Pia Herzegger) und von wechselnden Darstellerinnen vorgetragen werden. Dazwischen geschaltet sind Einlagen, die ein urbanes weißes Rauschen aus verlautbarter Werbung, männlichen Körperposen und Ordnungssystemen heraufbeschwören, die das Leben von Marion S. grundieren. Ohne Larmoyanz entsteht das eindrückliche Bild einer prekären Existenz zwischen Unabhängigkeitsstreben, Bindungslosigkeit, Alkohol und Depression in einem städtisch-provinziellen Kontext.
Die Impulse Theaterbiennale, die alle zwei Jahre in den Städten Köln, Düsseldorf, Bochum und Mülheim eine Bestenschau der Freien Szene abhält, ist unter der neuen Leitung von Florian Malzacher deutlich politischer geworden. Das zeigten Produktionen zu den Folgen nationaler Gründungserzählungen (Yael Bartana: Zwei Minuten Stillstand), zum Stand des deutsch-deutschen „Es wächst zusammen, was zusammen gehört“ (She She Pop: Schubladen) oder zur Historizität und Aktualität von Aufständen (andcompany&co.: Der (kommende) Aufstand nach Friedrich Schiller / Tamer Yiğit, Branka Prlić: Revolution Vakuum).
Die künstlerischen Angänge waren dabei zwar denkbar unterschiedlich, die Vorliebe für die Molekül-Theaterkochkunst à la Gießen jedoch unverkennbar. So bei dem jungen dänisch-deutschen Duo Cecilie Ullerup Schmidt und Matthias Meppelink, das mit „Schützen“ eine eindringliche choreographische Etüde über das Verhältnis von Körper und Waffe präsentierte. Mit unwiderstehlicher Freundlichkeit führte Schmidt als Performerin Konzentrations- und Entspannungsübungen als Vorbereitung auf das Schießen vor; sie berichten von eigenen Schießübungen bei der Berliner Schützengesellschaft 1882, stellen Verbindungen zwischen Release-Techniken beim Yoga und Schießen her. Fruchtbar gemacht werden die Erkenntnisse durch ihre Übertragung in tänzerische Elemente. Es geht schließlich um das Schießen selbst, das von Jugendlichen demonstriert wird, und der dritte Teil handelt von psychischen Störungen israelischer Soldaten. Alles mit einer verstörenden Gelassenheit und Sorge um das Publikum vorgetragen, denen man nichts entgegensetzen kann.
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Eine Frage des Kontexts
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„Wir suchen Orte der Wut und Traurigkeit auf“
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Freiheit oder Ausgrenzung?
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