Für jeden, der die Entwicklung von Kleinkindern aus nächster Nähe verfolgen kann, ist es immer wieder erstaunlich, in welchem rasanten Tempo sie verläuft. Schon innerhalb der ersten Wochen nach der Geburt lernen sie, belebte von unbelebten Gegenständen zu unterscheiden, sowie bekannte von unbekannten Gesichtern. Innerhalb weniger Jahre eignen sie sich die Muttersprache und erstes kulturelles Wissen an. Trotz des hohen Tempos sind Kinder jedoch keine Lernautomaten: Ihr Lernen vollzieht sich auf komplexe Weise, bei der vor allem Emotionen eine entscheidende Rolle spielen. Spätestens mit der Bindungtheorie des britischen Kinderpsychiaters John Bowlby gilt es als erwiesen, dass Kinder für eine gesunde Entwicklung die emotionale Zuwendung der Eltern oder anderer Bezugspersonen benötigen. Ein gern genannter Beleg ist das Experiment, das der deutsche Kaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert anstellen ließ: So ließ er einige Säuglinge von den Eltern isolieren und durch Ammen groß ziehen, die zwar deren körperliche Bedürfnisse versorgten, jedoch weder mit ihnen reden, noch sie berühren durften. Anstatt wie vom Kaiser erhofft, eine Ursprache zu entwickeln, starben die Säuglinge alle innerhalb kurzer Zeit.
Nach Bowlby ist das Bedürfnis nach engen Beziehungen Menschen ebenso angeboren wie anderen Säugetieren. Auch heute belegen zahlreiche Studien, dass Kinder, die in dieser entscheidenden Phase Vernachlässigung oder Missbrauch ausgesetzt sind, später nicht nur Probleme haben, selbst Beziehungen aufzubauen, sondern auch in der Schule große Schwierigkeiten haben. Dahinter steckt ein psychologischer Mechanismus, der in der Bindungstheorie „sichere Basis“ genannt wird: Bietet die Bindung zur Bezugsperson ausreichend Halt und Trost, um ein Urvertrauen zu schaffen, dann bietet diese Bindung den Kindern einen Hafen, von dem aus sie ihrem Entdeckerdrang nach gehen können, um sich auf neue Erfahrungen, Situationen und Menschen einlassen zu können.
Diese Erkenntnis kommt auch bei Angeboten zur frühkindlichen Erziehung zum Tragen – zum Beispiel in der Ehrenfelder Musikschule Köln. Diese bietet mehrere Kurse für Kinder vom Säuglingsalter bis zu fünf Jahren an, in denen sich die Kinder auf spielerische Weise und ohne Zwang an gemeinsames Singen, Tanzen und einfache Musikinstrumente herantasten können. Dabei setzt Simon Doetsch, Geschäftsführer und Dozent für frühkindliche Erziehung, explizit auf die Teilnahme der Eltern, die er ebenfalls als „sicheren Hafen“ für die Kinder beschreibt. „Die Verbindung zwischen Mutter und Kind ist dabei ganz zentral. Deswegen gucke ich die Mütter und Väter während der Kurse oft gar nicht an, damit deren Fokus ganz auf den Kindern liegt. Berührungen sind in dieser Phase auch sehr wichtig.“ Oft öffnen sich die Kinder erst nach einer gewissen Zeit für die neue Situation des Kurses – deshalb habe dieser auch über Wochen immer den gleichen Ablauf, um den Kindern die Situation vertraut zu machen. „Irgendwann fangen die Kinder an, sich für den Raum zu öffnen und ihre Umgebung zu erkunden. Am Ende schließlich sitzen sie mir alle auf dem Schoß und klettern auf mir herum.“
Doetsch betont, dass es nicht das primäre Ziel der Kurse sei, die Kinder auf Musikalität vorzubereiten. „Es geht vielmehr darum, den Kindern fundamentale Lebenskompetenzen zu vermitteln“, sagt er. „Musik bietet sich dabei an, ist aber nur einer von mehreren möglichen Wegen“. Für ihn ist der Begriff „Früherziehung“ daher auch das falsche Wort, Doetsch spricht lieber von der Schaffung von „Frühbeziehungen“: „Ziel ist es, über die gute Beziehung zwischen Eltern und Kindern, zwischen dem Dozenten und den Kindern, eine Begeisterung zu erzeugen, und über diese Begeisterung Inhalte zu transportieren.“ Diese Begeisterung lasse sich dann auch auf andere Bereiche des Lernens übertragen. „Lernen ist eben Wiederholung, und wenn man sich für seinen Gegenstand begeistern kann, ist der Lernaufwand eben ein ganz anderer, als wenn man keine Lust auf das Thema hat.“
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