Massenets Oper über den Aufstieg und Fall der lebenshungrigen, blutjungen Manon hält dem Publikum des ausgehenden 19. Jahrhunderts den Zerrspiegel unterdrückter Lüste und verborgener Laster vor. Die Kindfrau und Femme Fatale weckt erotische Fantasien männlicher Eroberungssucht und Träume romantischer Liebe zugleich. Sie provoziert sexuelle Abhängigkeit und ist zugleich eine Abhängige, die mit ihrer Schönheit dealt, um sich an sich selbst zu berauschen, wenn sie sagt: „Meine Schönheit alleine, sie regiert!“ Die Gier nach Geld, Ruhm und Applaus stehen in Konflikt mit der Sehnsucht nach Anerkennung, unentschieden taumelt sie von Vergnügen zu Vergnügen und sehnt sich doch nach wahrhaftiger Liebe. Den Ausstieg aus der Scheinwelt schafft sie nicht. Man brandmarkt sie als Kriminelle, ihr Geliebter Des Grieux hat mächtige Fürsprecher und kommt straffrei davon. Am Ende stirbt sie auf der Straße.
Prévosts Romanvorlage erschien 1731 in der „douce époque“, eine Zeit des Wohlstandes und schwelgerischer Vergnügungssucht in Frankreich. Massenet spiegelt in seiner Vertonung von 1894 die französische Gegenwart im Gewand der vergangenen Epoche. Er stellt den Niedergang der leichtfertigen Manon in den Vordergrund, der durch das dekadente gesellschaftliche Umfeld befördert wird. Die Romanperspektive des reumütigen Des Griuex, der auf sein Leben zurückblickt und davon erzählt, wie er durch Manon auf die schiefe Bahn geriet, spielt in der Oper keine Rolle mehr. Massenets Anlage der Oper geht vom Erleben der Hauptfigur aus: Er entwickelt die Melodik aus kleinsten, „naiven“ Motiven heraus, immer wieder kommt es zu jähen Stimmungsumbrüchen, Gewissheit gibt es für den Augenblick, der nächste kann schon wieder etwas Neues bringen, subtil folgt das Orchester jeder kleinsten Seelenregung. In Manons Visionen von einem unbeschwerten Lebens lässt Massenet musikalisch die längst vergangene Welt des französischen Hofes mit seinen pompösen Festen und barocken Balletten auferstehen.
Zugleich entwirft er für die jeweiligen Lebensstationen der Hauptfigur ein detailliertes Gesellschaftspanorama des frühen 18. Jahrhunderts quer durch alle Schichten und bedient sich dabei der Stilmittel der Opera comique. Wie sehr Leidenschaft und Todesahnung der Protagonistin das Geschehen auch bestimmen, so bleibt die Handlung mit ihren vielen Genreszenen eng der Alltagswelt verhaftet, in denen sich Ernstes und Heiteres, gesprochene und gesungene Passagen, große Gefühle und satirische Zeitkritik mischen. Die Karikatur von Nebenfiguren findet in der parodistischen Stimmführung den entsprechenden musikalischen Ausdruck. Massenet greift das Spiel mit der Trivialität der Bouffes-Parisienne satirisch auf, um die überschäumende Lebensgier und Vergnügungssucht in den Massenszenen effektvoll darzustellen. Derb Lustspielhaftes ragt bis in die tragischen Umbrüche hinein.
Die Opern Massenets und später Puccinis verhelfen dem Stoff zu Weltruhm. Puccini setzt jedoch 1893 andere Akzente: „Massenet fasst Manon auf französische Art auf, mit Schminke und Menuetten; ich dagegen auf italienische Weise, mit verzweifelter Leidenschaftlichkeit.“ Welcher der Fassungen man auch den Vorzug gibt, eins steht sicherlich fest: Massenet trifft den Nerv unserer lieblosen Zeit, die von Selbstinszenierung, Narzissmus und materieller Gier geprägt ist.
Wo zu sehen in NRW?
Premiere an der Oper Köln am 4. März
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