Keine weiteren Liebeserklärungen. Die tägliche Entwertung des größten aller Gefühle auf tauben Lippen oder mittels digitaler Ikone stellt die wahre Inflation dar, mit der ein emotionaler Niedergang zu Höhenflügen ansetzt. Natürlich liebt man neben Menschen und Ziegenböcken seine Stadt als Ganzes fanatisch, den 1., 2., 3. Fußballverein mitsamt Legionären, einen in seine Form gezwungenen Fluss, den Prunk der Kirchen, das malzige Odor der Brauereien, den Alleinanspruch auf Toleranz. Kölle, do bes e Jeföhl … mitunter ein Scheißgefühl!
Das Ausrufezeichen ist in der aktuellen Koproduktion zwischen Analog Theater und der Studiobühne nicht überhörbar. „Shit(t)y Vol. 1“ wuchtet die Wahrnehmung einer bewusstseinsversiegelten Metropole ohne Narkose ins Nervensystem des Betrachters. Das Erbe der militanten, klerikalen, faschistischen Vergangenheit ist dabei noch kein vergangenes. Die Gegenwart wird in der Inszenierung mit der Realität beglichen. Bezahlt wird in der Währung von Egoismen, Lügen, Larmoyanz, Spießbürgerlichkeit und Zynismus aus prall gefüllten Portemonnaies. Wer in dieser Stadt leben möchte, müsste sich einer Schauspielausbildung unterziehen, denn Performances auf unzähligen Bühnen sind die Regel.
Unter der Regie von Daniel Schüßler erfolgt in „Shit(t)y“ die prompte Umsetzung jenes Prinzips: Distanzen zwischen Publikum und dem Ensemble werden radikal aufgelöst. Das Theater füllt hier alle Räume. Begegnungen, Berührungen, Kollisionen sind nicht zu vermeiden. Urbane Reflektionen winden sich in Form analoger Wahrnehmungen, virtueller Bildnisse und hämmernden Klängen in jeder Körperhaltung. Dieser Stadt ist nicht zu Entkommen. Mehr tropfende Fixer-Spritzen und gebrauchte Stricher-Kondome im Sand der Spielplätze als unbeschwertes Kinderlachen, mehr Urin-Kloake als edles Kölnisch Wasser – „Shit(t)y“ ist ein nicht ruhendes Pumpwerk voller fleckiger Mythen, gärender Verachtung und ätzender Euphorie. Kein Klärwerk wäscht diesen Strom, der sich als drängendes Abbild seiner Erzeuger den Weg an die Oberfläche bahnt, um die Fundamente einer narzisstischen Gesellschaft zu sprengen. Das flirrende, tumultartige Schauspiel entpuppt sich im Zuge der einstündigen Darbietung als strukturiertes Chaos, gebettet in eine apokalyptische Vision, die wohltuenden langen Schlaf und neue Tage erhoffen lässt.
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