„Mein Ende gehört mir“ – ein Satz, der 2014 bundesweit für Aufsehen sorgte. Mit geschlossenen Augen und in schwarz-weiß präsentierten sich Journalisten, Politiker, Mediziner und Künstler, um für das „Recht auf letzte Hilfe“ zu werben. Fünf Jahre später ist das Thema noch immer aktuell. Anstatt dem Willen der Bevölkerung Rechnung zu tragen – in den Umfragen der letzten zehn Jahre sprachen sich regelmäßig 70 bis 80 Prozent der Deutschen für Sterbehilfe aus – wurden die Gesetze weiter verschärft. Vor allem durch den § 217 StGB, der nicht nur den Sterbehilfe-Verein Sterbehilfe Deutschland e.V., sondern theoretisch auch die ärztliche Suizidassistenz unter Strafe stellte.
Hoffnung keimte auf, als 2017 das Bundesverwaltungsgericht mit dem Hinweis auf das in § 2 des Grundgesetzes verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht entschied, dass schwerkranken Menschen „in extremen Ausnahmefällen“ der Zugang zu einem Medikament zur Selbsttötung – dem Betäubungsmittel Natrium-Pentobarbital – „nicht verwehrt werden“ dürfe.Dochdas Bundesgesundheitsministerium um Jens Spahn sah das anders: „Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, Selbsttötungshandlungen aktiv zu unterstützen“. Begründet wird dies mit der „Pflicht des Staates zum Lebensschutz“. Und so wurden von deninsgesamt 131 Anträgen, die seit 2017 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eingegangen sind, bereits 99 abgelehnt.Harald Mayer wollte dies so nicht hinnehmen. Der seit 22 Jahren an Multipler Sklerose leidende Mann klagte. Ihm schlossen sich sechs weitere Schwerstkranke an, die jedoch nicht mehr an dem Prozess vor dem Kölner Verwaltungsgericht teilnehmen konnten. Vertreten wurde Mayer von Robert Roßbruch, dem Vizepräsidenten der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Er sagt: „Für mich ist das Selbstbestimmungsrecht unseres Grundgesetzes das entscheidende Maß aller Dinge. Wir haben ein Recht zu entscheiden, wie wir leben wollen, wir haben auch ein Recht zu entscheiden, wie wir sterben wollen.“
Seit ihrer Gründung 1980 setzt sich die DGHS für „selbstbestimmtes Sterben“ ein und brachte 2009 das Patientenverfügungsgesetz auf den Weg. Der Verein kämpft für Gesetzesänderungen im Sinne einer Humanisierung des Sterbens. Christine Hucke ist ehrenamtliche Ansprechpartnerin für Köln und war beim Prozess mit dabei. Berührt hat sie, dass hier „die Zahlen mit Leben gefüllt“ wurden: „Ursprünglich hatte Professor Roßbruch sieben Klienten. Vier sind schon gestorben und das bedeutet, sie mussten unter für sie unwürdigen Bedingungen sterben.“ Davor soll die Patientenverfügung schützen, die mithilfe eines Notfall-Ausweises online einsehbar ist, falls der Patient sie nicht bei sich trägt. Obwohl Krankenhäuser seit 2009 verpflichtet sind, dem dokumentierten Patientenwillen nachzukommen, wird Christine Hucke oft Zeugin von Fällen, in denen sich Kliniken darüber hinwegsetzen: „Aber hier bietet die DGHS dann auch Rechtsschutz.“ Wer keine Vertrauensperson hat, wird über die Bevollmächtigten-Börse mit einem Freiwilligen zusammengebracht. Darüber hinaus berät die Ehrenamtlerin Patienten zum Sterbefasten, einer Methode, bei der Betroffene bewusst auf Essen und Trinken verzichten, um den Tod herbeizuführen. „Momentan ist das die einzige legale Methode“, erklärt sie. Dass das Kölner Gericht die Klage nun an das Bundesverfassungsgericht weitergeleitet hat, freut sie: „Ich wünsche mir einfach, dass Volkesmeinung anerkannt wird. Jetzt wird hoffentlich Karlsruhe entscheiden, dass der § 217 gesetzlich geändert oder zurückgenommen werden muss.“
Hinweis: Wenn Sie depressiv sind oder Selbstmord-Gedanken haben, wenden Sie sich bitte umgehend an die Telefonseelsorge: im Internet unter www.telefonseelsorge.de oder unter der kostenlosen Hotline 0800-111 01 11 oder 0800-111 02 22. Hier helfen Ihnen Berater, die Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.
Schöner Sterben - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
mdr.de/sachsen-anhalt/landespolitik/sterbehilfe-gesetzeslage-was-ist-erlaubt-100.html | Der MDR erklärt in ausführlichem Beitrag, was bei der Sterbehilfe erlaubt ist und was nicht.
drze.de/im-blickpunkt/sterbehilfe/einfuehrung-und-grundlegende-begriffliche-unterscheidungen | Das Deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften über Sterbehilfe.
daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/videos/sterbehilfe-video-100.html | ARD-Dokumentation über einen MS-Patienten, der für seine Selbstbestimmung kämpft.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Das Angebot erzeugt eine Nachfrage“
Gesundheitsethiker Theo Boer über aktive Sterbehilfe in den Niederlanden
Entscheidungsfreiheit oder Kindermord? – Vorbild Belgien
Das umstrittene Sterbehilfe-Gesetz
Die Würde des Sterbens ist antastbar
Harald Mayer will selbstbestimmt sterben, Jens Spahn lässt ihn aber nicht
Unbequeme Stellung
Trost vom Tod
Vergessene Nachrichten
Die Initiative Nachrichtenaufklärung in Köln
Kein Arbeitskampf ohne Körper
Das Fritz-Hüser-Institut in Dortmund erforscht Literatur der Arbeitswelt
Durch Drängen zum Flüsterton
Die Bürgertaskforce A 46 bündelt den Einsatz für Lärmschutz in Wuppertal
In höchster Not
Der Kölner Verein Blau-Gelbes Kreuz organisiert Hilfe für die Ukraine
Der Krieg und das Klima
Das Bochumer Klimaschutzbündnis fordert transparente und engagierte Klimapolitik vor Ort
Blühendes Forschungsfeld
Der Elberfelder Friedensgarten erkundet Verständigung auf Mikroebene
Kunstraub in der NS-Zeit
Forschungsprojekt am Museum für Angewandte Kunst Köln
Erinnerungskultur vor Ort
Stadtführung „colonialtracks“ über Essens Kolonialgeschichte
Neues Berufsbild für Flüchtlinge
Die Wuppertaler SprInt eG fördert kultursensibles Dolmetschen
Ein Tabu zu viel
Paula e.V. Köln berät Frauen ab 60 Jahren, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind.
Gendern rettet Leben
Neue Professur für geschlechtersensible Medizin an der Bielefelder Universität
Angst-Räume beseitigen
Die Wuppertaler Stabsstelle für Gleichstellung und Antidiskriminierung
Schöne Technik, sichere Daten
Zu Besuch beim Chaos Computer Club Cologne
Souveränität vs. „Konsumdressur“
Medienpädagoge Daniel Schlep fordert echte Medienkompetenz
An einem Tisch, selbst digital
Wuppertaler Bildungsreihe Fight for Democracy trainiert Verständigung auf Augenhöhe
Weniger Müll ist auch eine Lösung
Zero Waste bald auch in Köln?
Aus Alt mach Neu
Hilfe zur Selbsthilfe: Das Reparatur-Café in Wuppertal-Heckinghausen
Auf den Ruinen der Konsumgesellschaft
Die nachhaltige Werkstatt „Tanz auf Ruinen“ in Dortmund
Wenn die Jugend wählen dürfte
Der Kölner Jugendring vertritt politische Interessen junger Menschen
Nachhaltig glücklich
Die Station Natur und Umwelt in Wuppertal setzt für Klimaschutz auf positive Erlebnisse
Radikal gegen die Trägheit
Die Bochumer Ortsgruppen von Extinction Rebellion und Ende Gelände über Klimaaktivismus