Kopfwelten sind die Spielplätze der Fantasie. Hier lassen sich die abstrusesten Einfälle übereinandertürmen. Kopfwelten sind aber auch die Brutstätten des Zwanghaften, in denen der mentale Terror zuhause ist. Wenn Regieassistent Till Ertener seine erste eigene Inszenierung in der Grotte ansiedelt, dann hat das nicht nur etwas mit Assistentenspielwiese zu tun, sondern ist bereits programmatisch zu verstehen. Die physische Enge spiegelt die mentale Enge der Hauptfigur Amor. Johannes Benecke steht zu Beginn wie eine Salzsäule in der Mitte der kleinen Spielfläche (Bühne: Marina Diez Schiefer), während Nikolaus Benda als sein Freund Shavi wie ein Tier in einem Käfig hin- und hertigert.
Die Detonation in Jonas Hassen Khemiris „Ich rufe meinen Brüder“ ereignet sich real als Terroranschlag auf der Straße Stockholms und ihre Schockwellen brechen sich vielfach in Amors Gehirn. Seine Versuche, Shavi zu erreichen, setzen zunächst Erinnerungen an eine gemeinsame Kindheit in Gang. Nikolaus Benda verleiht diesem Freund eine warmherzig-prollige und extrem körperliche Präsenz – was umso kurioser ist, als Amor und Shavi sich telefonisch nicht erreichen. Unfreiwillig komisch allerdings wirkt dabei das „Hey, Alter“- und „Was geht ab?“-Gestammel. Diese in der Gegenwart misslungene, aber in der Erinnerung geglückte Begegnung öffnet erste Schleusen in Amors Kopf. Eine weitere Station: ein kleiner Kasten an der Decke, mithilfe dessen Amor mit seine Verwandten skypt, aber auch seinem Großvater im Jenseits. Der allzu gutwillige, hilfsbereite Sohn und Enkel träumt allerdings nur vom Widerstand: Mehr als eine nachträglich imaginierte Selbstermächtigung mit kleinen Wutausbrüchen ist nicht drin.
Dann allerdings antezipiert Amor sogar das „racist profiling“ der Polizei. Er imaginiert sich als Ziel des Terrorverdachts ganz im Sinne Edward Saids postkolonialer Theorie und der Anverwandlung kultureller Stereotypen. Johannes Beneckes hohe Stimmlage unterstützt diesen Prozess einer fast psychotischen Selbstviktimisierung. Ein (zufälliges oder eingebildetes) Treffen mit der Jugendliebe Valeria (Elena Hollender) mündet in eine Wette: eine Liebesnacht, wenn Amor einen der Polizisten an die Eier fasst. Eine absurde Mutprobe, deren Ergebnis für Amor in einer völligen Enttäuschung endet. Trotz der begrenzten Spielmöglichkeiten, die durch ein paar Neonröhren und Polsterelemente nicht wirklich erweitert werden, gelingt es Regisseur Till Ertener diesen Schwebezustand zwischen Realität und Fantasie den ganzen Abend über aufrecht zu erhalten. Als Zuschauer verliert man schnell die Orientierung, ob man es mit einem Opfer oder doch mit dem Täter des Bombenanschlags zu tun hat. Meint der Titel „Ich rufe meine Brüder“ wirklich nur einen Anruf oder doch vielleicht schon einen Aufruf? Realität, Paranoia, Verfolgungswahn, Ängste – die Kopfwelten sind derzeit auf beiden Seiten außer Rand und Band.
„Ich rufe meine Brüder“ | R: Till Ertener | 2., 10.4., 3., 10.5. je 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 284 00
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