„Willkommen im virtuellen Theater. Wir haben alles, was das Internet zu bieten hat: Katzen, Chats, Kunst, Porno, Kunstporno. Ist da schon wieder diese Katze auf meinem Kopf?“ Yuri Englert vom Schauspiel Köln hat recht, auf seinem Kopf liegt eine animierte Katze, die seine Stirn mit den Pfoten bearbeitet. Es ist die Premiere des Stücks „All for One and One for the Money“ – konzipiert von Regisseur Richard Siegal und dem Ballet of Difference (BOD). Wer jedoch an diesem Abend am Computer mit einem reinen Tanz-Stream gerechnet hat, der wird sich schon nach kurzer Zeit im interaktiven Chat beschweren.
Der Versuch, das zu beschreiben, was da passiert, scheitert schon, bevor die ersten Sätze aufs Papier finden. Das Grundsetting ist noch darzustellen: Wer eine Karte erstanden hat, kann sich online in das Stück begeben, das als partizipative Oberfläche im Design alter Computerspiele erscheint. Zwischen drei zeitgleichen Streams kann im Folgenden gewählt werden. In zweien davon erscheinen Darsteller des Schauspiels, denen man beim Gaming zusehen kann – und deren Technokapitalismuskritik man lauschen kann. Wenn man es denn schafft, sich darauf zu konzentrieren. Im dritten Stream werden eine ganze Zeit lang nur wenige Bewegungen der Tänzer gemimt und ansonsten die anderen beiden Streams gespiegelt.
Entscheidend ist jedoch auch das vierte Element – ein fortlaufender Chat, in dem jeder im Publikum seine eigenen 15 Minutes of Fame wahrnimmt. Schon nach kurzer Zeit entstehen hier viel Gemecker und Geschimpfe, weil der Tanz auf sich warten lässt. Derweil locken weitere Streams, die nur gegen erneutes Bezahlen angesehen werden können. Immer wieder unterbrechen technische Störungen das Spiel, man muss die Seite neu laden, seinen Chatnamen neu wählen, Bild und Ton sind nicht synchron. Doch an diesem Punkt fragt man sich bereits, ob nicht alles; die Wut im Chat, der fehlende Tanz, die Unterbrechungen, geplant ist.
„Unfassbarer Unterschied“ ohne anwesendes Publikum
Eigentlich sollte das Stück bereits am 9. April im Depot 2 uraufgeführt werden, damals noch in völlig anderem Gewand und vor anwesendem Publikum. Die Krise kam, und mit ihr das Auf-Eis-Legen sämtlicher tänzerischer Aktivitäten. In der gleichen Bewegung avancierten die sozialen Medien, die Videotelefonie und die Digitalität weiter zur gegenwartsprägenden Realität. „Wie formen und verformen die sozialen Medien unsere Identität, unsere Werte?“, fragte sich folgerichtig auch das Produktionsensemble, das BOD und Schauspiel seit 2017 in Projekten vereint. Seit Beginn der Saison 19/20 („Roughhouse“) ist das Schauspiel festes Zuhause der Ballett-Truppe.
„Das Stück, in dem ursprünglich vor allem Kapitalismus kritisiert wurde, bekam erst in der letzten Zeit diese neue Richtung und wurde interaktiv“, berichtet Livia Gil, Tänzerin des Ensembles. „In den letzten zwei Wochen wurde es richtig lebendig, auf der Bühne, mit den technischen Elementen und vor der Kamera.“
Sie und Tänzer Evan Supple erzählen am Tag vor der Premiere von den Schwierigkeiten, die mit einem Verbot des vor Ort anwesenden Publikums einhergehen. „Es ist ein unfassbarer Unterschied“, so Gil, „gerade noch haben wir über die Magie geredet, die entsteht, wenn man mit dem Publikum die gleiche Luft teilt.“
„Viel, für das man dankbar sein kann“
Diese Luft ist jedoch in den letzten Monaten zur Gefahr geworden, zu etwas, das auf keinen Fall geteilt werden darf. Wenn unisono in der Gruppe getanzt wird, müssen die Tänzer dazu eng anliegende Masken tragen. Nur in den Soli dürfen sie sich ohne Mundschutz bewegen; bei den akrobatisch präzisen Kraftakten auch kaum anders vorstellbar. Es gilt jedoch: Kein Anfassen, kein Nahekommen, drei Meter Abstand. „Es gibt eine ziemliche Menge an Regeln. Das fühlt sich sehr streng an“, kommentiert Evan Supple.
Für die Tänzer ist es schwer erträglich, nicht mehr wie gewohnt in den Körperkontakt zu kommen, wie er unter anderem im Pas de deux gefordert ist. „Über einen Text, den ich für das Stück geschrieben habe, habe ich jedoch auch die Möglichkeit, zu kommunizieren und mit dem Publikum zu philosophieren“, sagt Supple. „Dafür bin ich sehr dankbar.“
Beide Tänzer betonen des Weiteren, wie froh sie tatsächlich sind, überhaupt etwas darbieten zu dürfen. „Trotz der schlechten Zeiten haben wir diesen überwältigenden Prozess durchgemacht“, bestätigt Livia Gil, „und da gibt es viel, für das man dankbar sein kann.“ Supple ergänzt: „Besonders in Europa bin ich optimistischer als überall sonst. Hier wird die Kunst von der Regierung unterstützt, ganz anders als in den USA, wo man es verpasst, die Künste als lebenswichtige Institutionen zu erkennen.“
Der gebürtige Kanadier hat selbst auch in Nordamerika als Tänzer gearbeitet. Ähnlich geht es Gil, die vor sechs Jahren aus Brasilien nach Deutschland kam. „Selbst in den kleinsten Dörfern kannst du hier das Staatstheater sehen“, schwärmt sie. „In Deutschland gibt es mehr Unterstützung und Sicherheit für das Leben als Tänzer. Allzu leicht verliert man sich in der Routine und in den Frustrationen, die einen befallen. Doch es ist wichtig, nicht zu vergessen, woher man kommt – gerade, wenn ich mir die aktuelle, schlimme Situation in Brasilien ansehe.“
Sehnsucht nach Live-Auftritten
Auf die letzte Frage folgt erst einmal ein kurzes Schweigen auf Seiten der Tänzer: Was denken Sie über die Zukunft des Theaters? Was das aktuelle Stück angeht, bemerkt Gil nachdenklich, dass sie durchaus ein Potenzial dieses Formats sehe. Supple jedoch ist erst noch etwas zurückhaltender: „Im virtuellen Raum verliert die Darbietung ihre Vergänglichkeit. Sie kann aufgenommen werden und verschwindet nicht genauso wie sonst.“ Im Rückblick auf die Monate vor der erneuten Schließung, als Publikum erlaubt war, erkenne er eine deutliche Tendenz: „Die Leute waren so begeistert, wieder da zu sein. Die Sehnsucht, das Haus zu verlassen und etwas live zu sehen, ist einfach von unschätzbarem Wert.“
Die Performance, die daheim auf dem Laptop stattfindet, spielt sich auf so vielen parallelen Ebenen ab, dass sich die Sinne in 10D mit Wahrnehmungen überschlagen. Die Licht- und Video-Installationen von Matthias Singer. Die körperverzerrenden Choreografien auf der Bühne von Regisseur Richard Siegal und Dramaturg Tobias Staab. Die pulsierende elektronische Musik von Lorenzo Bianchi Hoesch. Einige im Publikum geben augenscheinlich auf, nachdem sie ihren Unmut im Chat kundgetan haben, und verlassen das virtuelle Theater. Am besten ist es wohl so ausgedrückt: Ständig ist da die Angst, etwas zu verpassen. Wirklich bis ins kleinste Detail verstehen kann man das alles nur high.
All for One and One for the Money | R: Richard Siegal | Fr 4.12. 20 Uhr (Stream) | Schauspiel Köln | 0221 221 28 40
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