„Hören Sie das nicht?“ Lenz steht vor dem Publikum. „Hören Sie das nicht?“ Verzweifelt fragt er immer wieder. Er meint die Stimme in seinem Kopf. Es ist eine Geschichte vom Wahn, der Suche nach Ruhe und dem Ringen um ein Ende. Sie handelt von Jakob Michael Reinhold Lenz, einem Schriftsteller im 18. Jahrhundert, der an einer psychischen Krankheit – vermutlich einer Schizophrenie – litt und dessen geistiger Zustand sich zunehmend verschlechterte. Georg Büchner verarbeitete u.a. seine Briefe und Berichte des Geistlichen J.F. Oberlin, der Lenz für kurze Zeit pflegte, zu einer Novelle, die derzeit am Studio Trafique auf der Bühne zu sehen ist.
Beim Betreten des Theaters wird gebeten, das Handy in den Flugmodus zu versetzen. Das Live-Film-Theaterstück wird im Stream übertragen. Zudem sind Kameras ins Bühnenbild integriert, die drei Schauspieler:innen filmen sich teils gegenseitig. Im Drinnen, im Draußen. Ihr Bild wird auf den Hintergrund und eine zweite Leinwand projiziert. Sie reden und schauen in die Kamera, vom Publikum weg, ihre Projektionen dagegen schauen uns Zuschauende an. Befremdlich. Bedrückend. Alles findet gleichzeitig statt. Videosequenzen überblenden und bleiben beide bestehen. Mein Blick versucht vergeblich alles einzufangen. Dazu Sound. Mal Stimmen, dann Klänge. Strobo-Licht. Und Unklarheiten. Denn Lenz ist nicht von einer Person besetzt – alle drei verkörpern gelegentlich den Literaten.
„Jedem Menschen frisst die Schlange am Herzen“, sagt Lenz. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er wieder dem Wahn verfällt. Als gefragt wird, wie das alles anfing, erscheinen die ersten Sätze von Büchners Werk auf der Wand. Die Aufführung bleibt nah an dessen Text. Wer ihn nicht kennt, hat Probleme, inhaltlich zu folgen. Der Text ist dicht, wird gelegentlich schnell gesprochen. Mit Oberlin wird über das Ich philosophiert, die freie Entscheidung. Augenblicke, in denen Lenz zur Ruhe kommt – mein Kopf aber nicht. Gestützt von warmem Licht, angenehmen Klängen und Rosen-Projektionen. Doch: „Es ist alles nur ein Schattenspiel. Alles zieht vorüber. Nichts bleibt.“ Lenz‘ Feststellung. Im immer dramatischeren Verlauf der Handlung werden die Körperhaltungen unnatürlicher. Lenz wirft sich ins Wasser, versucht zu ertrinken. Animalisch streitet er sich mit Kaufmann. Kaltweißes, blaues Licht in wirren Momenten. Nebel. Als würde man in Lenz Kopf sehen. Das schafft die Inszenierung, den Wahn erlebbar machen.
Lenz | R: Björn Gabriel | Fr 1.7., Sa 2.7. 20 Uhr | Studio Trafique | www.studio-trafique.de
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