Die Leinwand dunkel, die Bühne leer, der Orchestergraben verstummt: Kultur findet nicht statt. Was für viele eine tragische Ausnahmesituation darstellt, ist für andere Normalzustand: Menschen in Armut können sich Kultur auch jenseits der Krise nicht leisten. Vom Hartz-IV-Regelsatz sollen monatlich 41,43 Euro in Freizeit, Unterhaltung und Kultur fließen. Die Lebensrealität sieht anders aus: Wer trotz Bezüge sein tägliches Brot an den Tafeln bezieht, hat erst recht kein Geld übrig für Kultur.
Doch wo die Politik scheitert, springt in Köln die Kulturliste ein. Der Verein mit Sitz in Ehrenfeld vermittelt Gratisplätze bei kulturellen Veranstaltungen. An die, die es sich nicht leisten können. „Wir übernehmen das Konzept der Tafeln, nur mit einem anderen Lebensmittel: der Kultur“, erklärt Felix Mauser, Kulturmanager und Erster Vorsitzender. Gemeinsam mit seinen ehrenamtlichen Mitarbeitern vermittelt er in Kooperation mit zahlreichen städtischen Wirkungsstätten, vom Kellertheater bis zur Arena, freien Eintritt. Die Gäste müssen an der Kasse nicht den Kölnpass vorzeigen, sondern stehen auf der Gästeliste – Mauser vermeidet bewusst Stigmatisierung. Scham ist ein großes Thema in der Schlange an der Tafel, in der Philharmonie, die mancher Gast scheut, weil er keinen Anzug besitzt. Ein Image, das sicherlich mancherorts hausgemacht ist, für Mauser aber dem kulturellen Selbstverständnis widerspricht: „Kultur ist für alle da!“ In der Philharmonie tut es auch ein schwarzer Pullover. Stefan Bachmann, Intendant des Schauspiel Köln, unterstützt die Arbeit der Kulturliste und hat einmal sinngemäß gesagt: Wer Kultur bezahlen kann, der soll und muss es bezahlen – aber die anderen dürfen nicht davon ausgeschlossen sein.
Mauser erzählt von Menschen, denen es schwerfällt, ihre Wohnung zu verlassen, weil sie draußen nur Dingen begegnen, die sie sich nicht leisten können. Die Kulturliste leistet auch gesellschaftliche Integration. Mauser geht spürbar auf in seinem Ehrenamt. Der Dank der Gäste ist groß, der Wert der Kultur ist für Mauser exorbitant: „Kultur ist ja viel mehr als pure Bespaßung nach der Arbeit“, sagt er, „allein wenn ich sehe, was Shakespeare alles von mir und meinem Leben weiß, auch damals schon.“ Der Einbruch durch Corona entspricht für Mauser einem „kalten Entzug“. Wäre es nicht interessant, die Idee der Tafel auch ins Internet zu übertragen, wo Streaming-Dienste aufgrund der Krise starken Zulauf haben? Mauser erkennt den Wert kreativer Energien im Netz, doch vermisst er dort, was für ihn Kultur so besonders macht: das Gemeinschaftserlebnis. Und so bleibt die Hoffnung, dass sich die Menschen in der Isolation eben nicht an eine abgeschottete Kulturrezeption gewöhnen, sondern das gemeinsame Erleben zu missen beginnen. Und dass eine Demut bleibt für all das, was wir ansonsten so selbstverständlich konsumieren.
Armut ist längst selbstverständlich in Deutschland, dem viertreichsten Land der Welt, das bereits vom UN-Sozialrat für Versäumnisse gerügt wird, in dem Politik und Medien den Diskurs zur stetig wachsenden Ungerechtigkeit regelmäßig als Neiddebatte deklarieren. In dem es einer Farce gleichkommt, wenn die Wohlstands-Kanzlerin medienwirksam die Relevanz des Ehrenamtes hervorhebt. Weil es die Ehrenamtler sind, die aufopfernd und unentgeltlich die Versäumnisse der Politik ausbaden, indem sie bei den Menschen sind. Indem sie das Volk vertreten. In einem Land, von dem man erwarten sollte, dass Politik ebenso wie das Ehrenamt ein Ehren-Amt darstellt.
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www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Nachhaltigkeitsindikatoren/Internationale-Nachhaltigkeit/entstehung-entwicklung.html | Das Statistische Bundesamt informiert darüber, wie es um Deutschlands Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele steht.
www.german-doctors.de/de/corona-in-entwicklungslaendern | Die German Doctors entsenden ehrenamtliche Ärzte in Entwicklungsländer und kommentieren die Herausforderungen der Corona-Krise.
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