Krisen, Umwelt- und Klimakatastrophen, Flüchtlinge, schlecht bezahlte Arbeit, die angebliche Überschuldung des Staates und die tatsächliche vieler Privathaushalte: Die Antwort eines immer stärker werdenden rechtspopulistischen (Main-)Streams ist eine „Retropia“. So nennt der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Baumann die „Früher-war-alles-besser-Utopien“, die die Vergangenheit glorifizieren. Für die neuste Produktion des theater-51grad, „Erschöpfte Demokratie“, stellt Rückschritt keine erfolgversprechende Lösungsstrategie für Veränderungen dar. In der Performance stellen Andrea Bleikamp und ihr Ensemble an programmatischem Ort, den Seminarräumen des Max-Planck-Instituts für Sozialforschung, drei Utopien vor.
Bereits im Foyer wird das Publikum in drei Gruppen eingeteilt, die sich auf ihre jeweilige Reise durch die Seminarräume machen, in denen ihnen drei Utopien vorgestellt werden. Die sind allesamt sicherlich kritikwürdig, wie auch die abschließende 20-minütige Publikumsdiskussion später zeigen wird. Im Gegensatz zu den Angeboten der Retropisten, sind sie aber keineswegs einfältig, armselig oder denkfaul.
Da ist die OPN, die „Open Narration“, die politische Repräsentation vollkommen neu denkt, Staaten überflüssig macht und versucht, Macht in Information und Kooperation zu überführen. Den Raum mit dem „lebenden Gemälde“ beherrscht eine Installation, in der ein Ameisenvolk lebt. Vollkomme Funktionalität kann durchaus schön sein, wie das Gewirr und Gekrabbel in den Röhren und Zylindern zeigt. Zudem gibt es eine flache, aber strikte Hierarchie, wie die Kunsthistorikerin erklärt, und – sehr attraktiv! – ein Recht auf Faulheit. Und dann ist da noch „Europien“, der Ort mit bedingungslosem Grundeinkommen, negativ verzinstem Fließgeld und einem Ministerium für Glück. „Erschöpfte Demokratie“ ist schauspielerisch und sinnlich alles andere als eine Offenbarung. Dennoch ist es Mitmachtheater der guten Art. Zu selten hat man nämlich die Gelegenheit mit ein bisschen Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Eine wohltuende Erfahrung.
„Erschöpfte Demokratie“ | R: Andrea Bleikamp | WA im Frühjahr | theater-51grad | 0160 80 20 996
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