Was existierte zuerst, die Schönheit oder der sie bewundernde Blick? Das Sujet ist so alt wie die Europäische Kunst selbst. Ein besonders raffiniertes Beispiel für die kunstvollen Spiegelungen der Schönheit sind die Darstellungen der „Drei Grazien“. Töchter des Zeus, die Lebendigkeit, Schönheit und Charme symbolisieren. Raffael hat sie gemalt, aber auch Lucas Cranach und Canova verwandelte sie so delikat in Skulpturen, dass man sich schon ziemlich beherrschen muss, um nicht dem Wunsch nachzugeben, sie zu berühren. Natürlich wissen die drei Grazien, wie sie Reut Shemesh in ihrer Choreographie „Virgin's Voice“ jetzt präsentierte, um die Macht ihrer Verführungskraft. Sie lachen, werfen sich in Pose, sie kreischen und erstarren und in jedem Moment spielen sie schelmisch mit ihrem Publikum.
Reut Shemesh zeigt ihre Produktion im Rahmen des außergewöhnlichen Choreographen-Projekts „Three“, in dem Produktionsgelder aus NRW stecken und das jetzt in Köln in der Alten Feuerwache gastierte. Neben der Israelin Reut Shemesh stellte Philipp van der Heijden sein Stück „Whatever it is for three“ vor. Ein minimalistisches Spiel zweier Frauen und eines Mannes, das fast durchgehend mit dem Rücken zu Publikum getanzt wird. Schrittkombinationen wiederholen sich, werden leicht variiert und bilden eine abgezirkelte Tanz-Meditation, die unspektakulär bleibt. Sinnlicher dagegen präsentiert sich „The Man upstairs“ von der Engländerin Rachel Erdos. Minutenlang stehen die Tänzer unter einem weiten Strahl aus Sand, in dem sie sich drehen und wenden, bis das Spiel der Bewegung beginnt. Die Tanzfiguren leiten sich zumeist aus ritualisierten Bewegungen ab. Mit perfekter Geschmeidigkeit wird agiert, die Choreographie bleibt dabei aber spirituell verrätselt und stellt angesichts ihrer religiösen Inhalte eine demonstrative Selbstbezüglichkeit zur Schau.
Ein großer Gegensatz zum Trio von Reut Shemesh, denn Ieva Navickaite, Lisa Kirsch und Hannah Platzer kultivieren die zeigende Geste, wie sie von den antiken Vorbildern definiert wird. Damit alles gesehen werden kann, präsentieren sich immer zwei Frauenkörper von vorne und einer von hinten. Wer macht hier wen zum visuellen Gefangenen? Voyeurismus oder Exhibitionismus, das ist nicht zu entscheiden. Eine vitale, ironische Note erhält die Komposition durch die Tatsache, dass es die Teenager, oder – altmodisch formuliert – die leicht überdrehten Jungfrauen sind, die Weiblichkeit hier definieren. Bewegungstechnisch wählt Reut Shemesh die beiden Archetypen Fallen und Halten als Pole, zwischen denen sich dramatische Bewegung erzeugen lässt, die aber auch für die labilen Emotionen der jungen Frauen zum Symbol werden. Bevor sich Identität gefestigt hat, muss man sich zunächst ausprobieren. Das geschieht auf humorvolle Weise, mit Charme und im Zirkel einer dichten Konzeption, die zeigt, welche interessante Choreographin NRW mit dem Umzug von Reut Shemesh aus Amsterdam ins Rheinland gewonnen hat.
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