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„Radikal“
Foto: Thilo Beu

Im Zweifel für den Zweifel

29. Juni 2017

Mirja Biel lässt in Bonner Werkstatt „Radikal“ performen – Theater am Rhein 07/17

Manchmal überrollt das Zeitgeschehen die zeitgenössische Theaterwelt. Einige Tatbestände entwickeln sich einfach immer weiter. Das ist mit dem 2011 erschienenen Roman „Radikal“ von Yassin Musharbash nicht anders. Längst hat die Geschwindigkeit und Nähe der Einschläge in Old Europe zugenommen, längst sind Sicherheitsaspekte zum finalen Wahlkampfthema geworden. Mirja Biel will wohl all dies einfließen lassen, wenn sie die Textvorlage in der Bonner Werkstatt performen lässt.

Auf der Bühne steht ein stilisiertes Großraumbüro aus Gittern, der Boden übersät mit Computerausdrucken, es nebelt. Eine riesige Kartoffel auf zwei Beinen kämpft sich über die Bühne, eine Stimme aus dem Off rezitiert fortlaufend Interview-Antworten. Dann folgt eine Explosion – die Kartoffel ist tot. Ein Anschlag mitten in Berlin, mitten in einer Redaktion. Opfer war der muslimische Grünenpolitiker Lutfi Latif, der als Abgeordneter im Bundestag wohl zahlreiche Feinde in unterschiedlichen Lagern hatte. Al-Qaida bekennt sich umgehend, für die Presse ist das ein gefundenes Fressen, die Insider dort fühlen sich bestätigt, suchen nur noch nach der geeigneten Headline.

Biel hätte aus „Radikal“ einen netten Krimiabend mit Agenten, Kripobeamten und investigativen Journalisten machen können, doch es kommt anders. Strukturiert durch die verschiedenen Räume, wird die eigentliche Hinterfragung der Urheber des Attentats eingebettet in eine wüste Choreografie, die es möglich macht, den handelnden Figuren neben den Dialogen auch die Macht der Bilder zu übertragen. Denn die bestimmen heute über Wahrheit und den Zweifel daran. Und dieser Zweifel wird in der Gesellschaft immer stärker. Matthias Nebels Bühnenbild liefert visuelle Ankerpunkte zwischen Abbildern Karls des Großen oder Luis Buñuels Auge vor dem Schnitt, aber auch mit unbeschriebenen weißen A4-Blättern und endlosen Requisiten in den acht Zellen.

Latifs Assistenten und die junge Reporterin misstrauen dem Bekenntnis der klerikalen Terroristen, sie suchen die wahren Hintermänner des Anschlags, denn was die wenigsten wissen, die Ziele der neuen Rechte decken sich erstaunlicherweise mit denen der bärtigen Fanatiker. Also graben sie weiter, liefern Fakten, immer wieder lässt die Regie über einen Beamer ein Live-Video projizieren, immer wieder bricht Performatives die Handlung und die Dramaturgie. Mit durchsichtigen Masken wechseln die vier tollen Darsteller unterschiedliche Rollen. Stück und Regie hinterfragen auch die Rolle der Medien, das ewige „Das kann man nicht miteinander vergleichen“ und die Diffamierung ohne Faktenlage.

Und Biel hinterfragt Heimat und Identität der Menschen, die unter dieser Diffamierung am meisten leiden müssen, denn die Islamisten haben längst eine ganze Religion gehijackt. Also müssen wieder Bilder her, es wird getanzt, die roten Fahnen flattern, T-Shirts mit pseudoreligiösen Aufdrucken werden gewechselt; ja, die Gedanken sind frei, der Ku-Klux-Klan ist Kacke – und was erst ein bisschen nach Effekthascherei aussieht, entpuppt sich dann doch auch als Analyse rechter Gewalt.

„Radikal“ | R: Mirja Biel | Do 6.7. & Fr 14.7. 20 Uhr | Theater Bonn Werkstatt | 0228 77 80 08

Peter Ortmann

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