Die Freie Szene reagiert immer schneller auf Ereignisse, die unsere Gegenwart prägen. Die Medien sind voll von den Bildern flüchtender Menschen, und während hier das Fernsehen von der ungarischen Grenze berichtet, zeigt die Gruppe bodytalk in ihrer Produktion „Fleshmob mit Toten / Eine Performensch“ schon die Reflexion über dieses Ereignis. Die etablierten Stadttheater mit ihren umständlichen Produktionsbedingen scheinen bei jenem Publikum abgehängt, das jetzt den Think Tank Theater benutzen will, um unsere Gegenwart in den Blick zu bekommen.
Dass es angesichts des Flüchtlingselends zwölf geschlagen hat, kommentiert der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi mit dem Satz: „Die Zeit der Schweigeminuten ist vorbei“. Die 20-köpfige Truppe von bodytalk liefert das Bild zu solchen Worten, wenn die Bühne plötzlich von nackten Leibern übersät ist, die still da liegen. Bilder des Holocaust oder Massakern wie in Syrien oder in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila stellen sich ein. Tatsächlich hat die Entscheidung, Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, gezeigt, dass Handeln den Nebel der Betroffenheitsgesten durchbrechen kann. bodytalk nimmt aber auch ketzerisch die Kunstszene ins Visier, die sich gerne friedensbewegt und anklägerisch gibt, wenn dem Krieg – was immer das sei – der Kampf angesagt werden soll. Aber ist das dann noch Kunst oder ein humanitärer Persilschein, den man sich selbst ausstellt?
Das Ensemble um Yoshiko Waki und Rolf Baumgart legt den Finger auf den Nerv der obskuren Gewissenskultur, und sie machen das so verwirrend, dass sich das Publikum immer wieder fragt, sind die nun dafür oder dagegen? Mit der Intention, das Publikum aus der moralischen Balance zu bringen, arbeitet bodytalk in jeder seiner Produktionen. Diese Doppelbödigkeit unterscheidet die Gruppe am deutlichsten von ihrer Konkurrenz innerhalb der Szene. Diesmal kooperiert bodytalk mit der Iranerin Solmaz Vakilpour, die im letzten Jahr den „Warless Day“ gründete, eine Aktion, bei der sie nackt im öffentlichen Raum agiert. Bedeutet nackt zu sein, aber auch schon kritisch oder subversiv zu sein? Solmaz Vakilpour, die seit zehn Jahren in Deutschland lebt, erzählt eine Geschichte, von der sie sagt, dass es ihre sei, in der sie von furchtbaren körperlichen und seelischen Misshandlungen berichtet, die sie im Iran erlitten haben soll. Welches Leiden ist glaubhaft, gibt es ein Ranking des Leids und wer leistet sich Mitleid? Braucht es komfortable gesellschaftliche Bedingungen, um sich Mitleid leisten zu können?
Fragen, die von bodytalk gestellt werden, während zugleich ein wildes Treiben auf der Bühne entflammt. Musik, Tanz und Agitation, alles durchkreuzt einander. Alle Darsteller entkleiden sich, das Publikum wird - wenn es möchte - auf die Bühne geholt, so dass sich das Spektakel aus unterschiedlichen Perspektiven erleben lässt. Kopf und Körper sprechen auf ihre Weise, nichts geht in Eindimensionalität auf. In den lauten Szenenfolgen stellen sich immer die Fragen nach Haltung und Gestus politischer Aktionen. Mit humanitärem Goodwill kommt hier niemand durch, dafür ist das Material auch viel zu heterogen und zu inspirierend. Ein Erlebnis ist es in jedem Fall, auch wenn vieles grobkantig aneinander gesetzt wird, erlebt man Theater, Tanz und Performance als offenes Gesamtkunstwerk, das sein Publikum unmittelbar in Atem hält.
„Fleshmob mit Toten / Eine Performensch“ | R: Yoshiko Waki / Rolf Baumgart | Fr 9.10., Sa 10.10. 20 Uhr | Theater im Pumpenhaus, Münster | 0251 23 34 43
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Lieber heute statt morgen
Performance-Festival tanz.tausch findet digital statt – Festival 01/21
Begegnung mit dem Anderen
Das El Cuco Projekt zeigt das lauernde Tier in uns – Tanz in NRW 12/20
„Ich steh nicht auf Stillstand“
Choreografin SE Struck von SEE! über die Arbeit während Corona – Interview 12/20
Tanz in zehn Dimensionen
Live-Übertragung des Ballet of Difference am Schauspiel Köln – Tanz 12/20
„Nicht aufhören, großes Theater zu machen“
Choreografin Stephanie Thiersch über Tanz während Corona – Interview 10/20
Akrobatik im Alltag
Start von Urbäng rund ums Orangerie Theater – Festival 10/20
Was hält uns zusammen?
Das Festival Urbäng! betrachtet Familie, Männlichkeit und Kapitalismus – Tanz am Rhein 10/20
Die vitale Versehrte
„Fractura“ erzählt von den Brüchen im Leben einer Tänzerin – Tanz am Rhein 08/20
„Als echter Künstler sollte man weinen können“
Aalto-Ballettintendant Ben Van Cauwenbergh über die „Drei Schwestern“ – Tanz an der Ruhr 04/20
Das Sofa als Erkenntnisinstrument
Tanzfestival Into the Fields verwandelt Bonn in ein Bewegungslabor – Tanz am Rhein 04/20
Postkoloniale Geister
„Ist das ein Mensch?“ von kainkollektiv im Ringlokschuppen Ruhr – Tanz an der Ruhr 03/20
Die Schule tanzend aus den Angeln heben
Silke Z produziert neue Choreografie in deutschen Schulen – Tanz am Rhein 03/20
Amerikanerin am Rhein
Emily Welther meistert auch schwierige Themen des Tanzes – Tanz am Rhein 02/20
Therapie des Hörsinns
„The Listeners“ von Alma Söderberg/Cullberg im Pact Zollverein – Tanz an der Ruhr 02/20
Luftig ins Jubiläumsjahr
„L’après-midi d’un foehn“ auf Zollverein – Tanz an der Ruhr 01/20
Dem Unberechenbaren die Türe öffnen
Barbara Fuchs‘ erfrischender Umgang mit dem Familiengebilde – Tanz am Rhein 01/20
Gott tanzt
Das Festival tanz.tausch in Köln – Tanz am Rhein 12/19
Das erregende Moment der Bewegung
Festival Tanzrauschen in Wuppertal – Tanz in NRW 11/19
Nicht reden, sondern machen!
Festival „Urbäng!“ bietet starkes Programm – Tanz am Rhein 10/19
Verausgabung als Ereignis
Die Ruhrtriennale geht beim Tanz bis zum Äußersten – Tanz in NRW 09/19
Kalte Leidenschaft in der Oper Köln
Sasha Waltz blickt illusionslos auf die Menschheit - Tanz am Rhein 08/19
Ein zweiter Körper
„Uncanny Valley“ von Stefan Kaegi und Thomas Melle – Tanz an der Ruhr 07/19
Bitter und schön zugleich
Die Batsheva Dance Company aus Tel Aviv zu Gast in Köln – Tanz am Rhein 07/19
Beats und Rhymes
Das vierte International Summer Battle – Tanz an der Ruhr 06/19