Unruh
Schweiz 2022, Laufzeit: 98 Min., FSK 6
Regie: Cyril Schäublin
Darsteller: Clara Gostynski, Alexei Evstratov
>> unruh.grandfilm.de/
Drama über Kontrollwahn und Anarchie
Am Herz der Uhr
„Unruh“ von Cyril Schäublin
1872 will der russische Kartograf Pyotr Kropotkin (Alexei Evstratov) ein Tal im Schweizer Jura neu kartographieren. Im Ort ist eine große Uhrenfabrik ansässig, die dermaßen auf Effizienz und Sekundentakt ausgerichtet ist, dass sie gar eine eigene Zeitzone etabliert hat. Was klingt wie eine Dystopie, ist gelebte Vergangenheit. Als Gegenpol zum Stechuhr-Betrieb ist im ausgehenden 19. Jahrhundert hier wie allerorten die anarchistische Strömung aktiv. Macht- und Kontrollwahn reiben sich zunehmend dramatisch mit Dezentralisierungs- und Freiheitsbestrebungen. Der Ort im Tal ist gespalten, Pyotr wohnt der Angelegenheit an der Seite der Arbeiterin Josephine (Clara Gostynski) bei.
Interessanter Film: Es scheint, als hätte Regisseurin Cyril Schäublin die Prägnanz und kühle Nüchternheit eines Uhrwerks in ihr Inszenierungskonzept überführt. Der Großteil der statischen Kameraperspektiven könnte dem starren Blick der nächsten öffentlichen Uhr entspringen. Details bebildert die Kamera folgerichtig am liebsten, wenn der Blick ins Uhrwerk selbst gerichtet ist, auf Feder, Unruh, Schwingsystem.
Wie die Kamera, so wirken auch die Menschen seltsam unbeteiligt in diesen aufreibenden Zeiten, Pyotr selbst bleibt, wie alle anderen, recht charakterlos gezeichnet. Dabei wird dem Film ein Zitat von diesem Pyotr Kropatkin vorangestellt, in dem er emotional aufgewühlt vom Freiheitsdrang der Einwohner schwärmt und sich als Anarchist wiedergeboren findet. Kropatkin ist eine historische Figur, und im Jura-Tal ist tatsächlich der anarchistische Funke auf ihn übergesprungen. Da wäre also Platz für Emotion und Typentwicklung. Doch nichts dergleichen. Schäublin erzählt von den Vorgängen und Konflikten zwischen Fabrik, Gasse und Wirtshaus unbeteiligt, den Menschen selbst fehlt es an Euphorie, an Kampfeslust, an Emotion. Ganz selten bricht Schäublin daraus aus – und das ist dann plötzlich tatsächlich ganz magisch.
Nicht zum ersten Mal fällt diese seltsame Nüchternheit auf beim Betrachten eines Schweizer Films. Eine cineastische Eigenart der Eidgenossenschaft? Haben die Schweizer*innen nur die Uhr im Kopf? Sind die Schweizer*innen auch emotional neutral? Ist dem so, dann treibt es Schäublin auf die Spitze. Das Ergebnis ist, wie gesagt, interessant, aber wenig mitreißend. Es sei denn, man spinnt die Dinge selbst zu Ende. So wird aus einem Schwenk im Dickicht tatsächlich ein hochromantisches Happy End. Gleiches gilt für den Humor: Was wir sehen ist erstmal bloß verstörend. Komisch wird es erst in unserem Kopf, der diesem Irrsinn folgt: dem Uhrwerk als Motor des Kapitalismus, der bis heute läuft und läuft und läuft.
Recht eigenartig also insgesamt, doch allein die nüchterne Betrachtung dieser Welt zwischen Taktung und Rapport, die sich, wie wir wissen, bis hin ins Hier und Heute zieht, ist lohnenswert. Und wer die explizit humorvolle Abhandlung zum Thema sucht, der hole halt Asterix-Band Nr. 16 hervor.
(Hartmut Ernst)
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