28.04.11 - Zugegebenermaßen ist rein rechnerisch noch nichts entschieden. Gewinnt Bayer Leverkusen alle drei verbleibenden Spiele und verliert der BVB gleichzeitig zwei Spiele, könnte die Werksmannschaft der Firma, die Aspirin und Heroin zur Marktreife führte, doch noch die Meisterschaft für sich entscheiden. Aber wahrscheinlicher ist: Vizekusen bleibt Vizekusen und Dortmund wird nach 1956, 1957, 1963, 1995, 1996 und 2002 zum siebenten Mal Deutscher Meister.
Gern hätte ich ein Essay passend zu diesem Ereignis veröffentlicht. Leider war der Text in unseren Printmedien schon für Ende April angekündigt und der Ballspielverein schwächelt ein wenig in der Zielgeraden. Nun sind es „nur noch“ fünf Punkte, drei Spiele, neun mögliche Punkte. Aber bitte keine Schwarzmalerei.
Denn: Hurra! Dortmund wird Deutscher Meister. Und Schalke oder Duisburg gewinnen den DFB-Pokal. Schalke erringt – trotz des Klassenunterschiedes gegen die „Reds“ aus Manchester – eine bedeutende Platzierung in der Champions League. Dem VFL Bochum drückt man auch als Pott-Konkurrent die Daumen. Eine Mannschaft mehr in der Bundesliga hieße momentan vier Revierderbys mehr pro Spielzeit.
Der Fußball kommt nun endlich dahin, wo er hingehört, nämlich nach Hause, ins Ruhrgebiet. Niemals in der Geschichte des deutschen Fußballs waren die Clubs aus dem Pott so erfolgreich wie in der Saison 2010/11. Das, was die Kulturhauptstadt RUHR.2010 immer wollte und nie schaffte, die schönste Nebensache der Welt vollbrachte das Wunder. Im vergangenen Jahr versuchten Pleitgen und Kollegen mit einem Massenfrühstück auf der Autobahn und mit Ballons über Zechen der Republik zu zeigen, welche Kraft im Pott steckt. Die Republik lächelte meist dazu. Denn durch die vordergründige Kraftmeierei schimmerte immer der Minderwertigkeitskomplex durch. Beim Fußball aber wird nicht gelächelt, da zählt einzig und allein, was auf dem Platz.
Oder nicht? Nicht nur. Fußball lässt immer auch Raum für die Metaerzählung, für die Geschichte hinter der Geschichte. Dass der Rekordmeister, dessen Name hier im Text nicht auftauchen wird, also der namenlose Verein aus Süddeutschland, eben Rekordmeister ist, lässt sich mit drei Worten erklären: Geld schießt Tore. Mit dem zusammengekauften Menschenmaterial, das sich dort auf der Bank den Popo platt sitzen muss, könnten zwei mittelmäßige Erstligaclubs gut bestückt werden. Deshalb ist jedes Jahr, in der der Rekordmeister nicht Meister wird, als ein Sieg des Sports gegen das Kapital zu feiern.
Die Geschichte der Dortmunder Meisterschaften erzählt die Geschichte des Strukturwandels. In den Fünfziger und Sechziger Jahre standen die Meisterschaften für die immense Potenz der Schwerindustrie. Pathetisch dahergegrönemeyert hieß das: „Dein Grubengold hat uns wieder hochgeholt“. In den Neunzigern war der Erfolg des BVB Ausdruck des damaligen Strukturwandels. Aus der Montanregion wurde eine monetäre Region, der Bergmann wurde Versicherungskaufmann. Die Westfalen verkauften später sogar ihren Stadionnamen an ein Versicherungsunternehmen und wirtschafteten wie ein Rekordmeister ihren Verein in die Krise. Und jetzt steht der Erfolg des BVB für ein neues Selbstbewusstsein und auch für eine neue Philosophie. Die Person Jürgen Klopp beweist, dass der Unteroffizier oder gar der General als Trainermodell ausgedient hat. Zusammen mit seinen Schülern wärmt sich der Fußballlehrer vor den Augen der 80.000 Fans auf, bevor der Schiri das Spiel anpfeift. Und die Schüler sind tatsächlich noch Jungs. Manche sogar homegrown.
Neu ist auch der relative Frieden zwischen den Pott-Vereinen. Früher wurden bei Derbys von den zugereisten Fans regelmäßig Straßenbahnwaggons abgefackelt. Inzwischen beschränkt man sich darauf, auf der gegnerischen Turnhalle die eigene Vereinsfahne zu hissen. Der Fußball insgesamt hat sich aber eben auch im Ruhrgebiet zivilisiert. Und das ist wahrscheinlich auch ein wenig der Verdienst der Kulturhauptstadt. Vor etwa einem Jahr ließ Steven Sloane auf Schalke die Fans vom VfL, vom BVB und von S04 vielstimmig „Hejo, spann den Wagen an“ singen. Und dann auch noch „Alle Menschen werden Brüder“. Vielleicht, so nun die steile These, hat der fußballerische Erfolg des Ruhrgebiets die Kulturhauptstadt RUHR.2010 als verkannten Anschub genossen.
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