14. Januar, 19:15 Uhr: Da liegen sie nun, die druckfrischen Exemplare des großformatigen Sachbuch-Schinkens „Die Stadt, das Land, die Welt verändern! – Die 70er/80er Jahre in Köln – alternativ, links, radikal, autonom“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch, € 29,99). Sieben Jahre hat es gedauert, in einer Aufsatzsammlung die Erinnerungen von 125 Autorinnen und Autoren zusammenzubringen, die nach den Studentenprotesten von 1968 in Köln für eine andere Stadtkultur und eine humanere Gesellschaft kämpften. Für die Herausgeber Anne Schulz und Pui von Schwind war das Projekt eine Herzensangelegenheit; nun diskutierten in Ehrenfeld im „Colabor – Raum für Nachhaltigkeit“ gemeinsam mit den Autoren Wolfgang Hippe und Daniel Kreutz über ihre Kapitel und stellten zusammen mit dem Publikum einige Vergleiche mit der Jetztzeit an.
Sicher ist: Vieles, was damals etwa durch Streiks und Besetzungen erreicht oder nicht verhindert werden konnte, ist uns geblieben, ob in fester Form oder in Form eines gesellschaftlichen Hinzulernens, das als solches nach all der Zeit wieder dem Vergessen ausgesetzt ist. Doch erinnern sollte man sich – nicht nur um die Stadt Köln, wie sie sich uns heute darbietet, besser zu verstehen, sondern auch um sich mittels der Erfahrungen der politisch aktiven 68er-Generation über die „Werkzeuge“ (so im Vorwort) im Klaren zu sein, die mündigen Bürgern zur Verfügung stehen, die mit Verwaltung und Politik nicht einverstanden sind.
Freie Republik Platania
Ein Beispiel: Der Kaiser-Wilhelm-Ring. Schön anzusehen auf alten Fotos vom Vorkriegs-Köln, als sich hier ein von Jugendstil-Häusern umgebener Park befand. Man vergisst oder weiß nicht, dass der Park auch nach dem Krieg noch da war und auch noch einige der Häuser. Doch dann kam die Stadtverwaltung, die nicht nur Häuser abriss, sondern auch noch 1986 stark in diese wohlkonzipierte Mischung aus Platz und Straße eingriff. Anwohnerin Anne Schulz (Grünen-Gründungsmitglied) erlebte es: Die U-Bahn-Strecke sollte direkt unter diesem Teilstück des Rings durchgehen und im gleichen Zuge eine unterirdische Parkgarage gebaut werden, die alternativ als Atombunker dienen konnte. Damit einhergehen sollte und musste eine radikale Umgestaltung der erst einmal zu beseitigenden Fläche. Als die Pläne 1984 publik wurden, begannen die Anwohner und Geschäfte nach und nach, sich zu solidarisieren und als Bürgerinitiative Widerspruch einzulegen, der schließlich die Stadtöffentlichkeit und die politischen Organe erreichte. Unter anderem brach ein Konflikt zwischen den Jusos und der SPD aus, aber auch Oberbürgermeister, Stadtrat und Verwaltung kamen nicht um das Thema herum.
Die Protestierenden riefen die „Freie Republik Platania“ aus und bemächtigten sich der Platanen, die nun bestiegen und teilweise bewohnt wurden. Jeweils eine Gruppe war für einen Baum zuständig. Die durchgehende Besetzung – auch bei Nacht – umfasste Informationsstände, Fassadentransparente, Puppentheater, Auftritte von BAP und den Bläck Fööss und vieles mehr. Nach vier Wochen konnte man dem Stadtrat 15.000 Unterschriften vorlegen. Trotzdem: Am 6. März 1986 erfolgte die lange befürchtete Räumung durch Polizei und SEK, die mit Fahrzeugen und Hubschraubern anrückten und niederländische Baumfäller mitbrachten, die noch am selben Tag ihr Werk verrichteten. Dann sah man lange Zeit nur Baustelle. Heute stehen noch ein paar Platanen am Rande und eine riesige, manchmal leere „Betonbadewanne“ (Anne Schulz) bildet den Mittelpunkt eines für Mensch und Tier nicht zufriedenstellenden architektonischen Parks mit U-Bahn- und Parkgaragen-Zugängen.
Wem gehört der öffentliche Raum?
Die Frage, wem öffentlicher Raum gehört (inzwischen gibt es das Schlagwort „Recht auf Stadt“), wurde damals beantwortet mit: der Stadtverwaltung. Heute undenkbar, findet eine Zuhörerin, dass eine Stadt sich einfach so durchsetzt. Doch das Beispiel der geplanten zusätzlichen Abbiegespur am Mediapark, das Martin Herrndorf vom Colabor erwähnt, zeigt: Auch heute wird lieber gemacht als lange gefragt. Im Stadtrat waren die Grünen einen Kompromiss eingegangen, um sich zugunsten von Radfahrern überhaupt einbringen zu können (Änderungsantrag). Wolfgang Hippe, der seinen Aufsatz zur Anti-Atomkraft-Bewegung vorgetragen hatte, sprach der Zivilgesellschaft ein verändertes Bewusstsein bezüglich politischem Engagement zu, blieb aber skeptisch in Bezug aufs Demokratieverständnis der heutigen Stadtverwaltung. Er erinnerte auch daran, dass die Ringe nie zu dem „Boulevard“ geworden seien, der den radikalen Stadtplanern einmal vorschwebte, ihr Image sei bei Kölnern wie bei Besuchern nicht gut. Zur Sprache kam auch die Theaterdiskussion, die Hippe von einer Architektenlobby und Denkmalschützern dominiert sah.
Anne Schulz erklärte, dass auch wenn Ziele nicht erreicht würden, Auseinandersetzungen doch die Gegenseite zukünftig vorsichtiger machten. Ein wenig mehr Hartnäckigkeit sei etwa Ratsmitgliedern heute zu wünschen. Als Bereiche, in denen die Gesellschaft definitiv weiter sei, nannte Anne Schulz die Situation der Frauen und das Umweltbewusstsein. Dauerargumente von früher: „Umweltschutz vernichtet Arbeitsplätze“ und „Geh doch nach drüben!“ (in die DDR), seien inzwischen „durch“. Ein Besucher wandte ein, dass das Beschäftigungsargument in vielen Bereichen weiterlebe, etwa beim Braunkohletagebau – es käme darauf an, ob die Konzerne zum Geldverdienen konkrete Ausweichmöglichkeiten hätten.
Hinterlassenschaften
Bürgerinitiativen, heute recht alltäglich, seien laut Schulz noch in den 80er Jahren Ausnahmen gewesen, und sie erinnerte daran, dass Köln seine Bürgerzentren, die freien Theater, das Autonome Zentrum, die Sozialistische Selbsthilfe in Mülheim (Artikel), die StadtRevue oder das NS-Dokumentationszentrum und viele andere Einrichtungen den alternativen Bewegungen der 70er und 80er Jahre verdanke. Man müsse wissen, dass damals Aktivisten verurteilt wurden oder Berufsverbot erhielten, es habe alles seinen Preis gehabt. Daniel Kreutz erwähnte an anderer Stelle, dass verurteilte Teilnehmer der Anti-AKW-Bewegung (von der er und Hippe sehr sachlich berichteten) auch nach dem Atomausstieg juristisch noch nicht rehabilitiert seien.
Die Frage, warum es heute im linken und alternativen Bereich stiller geworden ist, versuchten viele Teilnehmer zu beantworten. Daniel Kreutz erinnerte sich an die klaren Arbeitszeiten der 70er Jahre, die es möglich machten, sich abends und am Samstag vollzählig zu treffen. Twitter und andere Social Media sahen die Autoren als zusätzliche Kommunikationsmittel, die den Flugblättern, Vollversammlungen und Telefonketten früherer Zeiten durch die schnelle Verbreitung voraus, aber nicht grundsätzlich überlegen seien. Kreutz sah keine wirklich großen Bewegungen mehr, die wie etwa die Anti-AKW-Bewegung vieles Verwandte und Kompatible mit an sich heranziehen und aufsaugen, bis sie im gesellschaftlichen Diskurs einen zentralen Platz einnehmen; stattdessen wisse man kaum, welcher der unzähligen Einzelprobleme und -aktionen man sich in einem gegebenen Moment zuwenden solle. Der Lesungsabend war ein gutes Beispiel: Wegen der gleichzeitigen Demonstrationen gegen Kögida und der Charlie-Hebdo-Trauerkundgebung waren Autoren und Besucher zwischen diesen und der Lesung hin- und hergerissen und kamen zum Teil verspätet.
Über 600 Seiten Erfahrung
Das Buch bietet straff geschriebene Berichte zu allen möglichen Themen, etwa auch zu politischen Parteien (Anfänge der Grünen; DKP, SPD, Radikale Linke u.v.a.), den Hochschulen (Basisgruppen an der Uni Köln), der 68er-Bewegung, Häuserkämpfen, den Autonomen, Antifaschismus, zur Friedensbewegung, Schwulenbewegung, Frauen-, Lesben- und Migrantinnenenbewegung, Öko-Bewegung (Gorleben, erste Bioläden u.a.), Anti-Knast-Bewegung, zu Kultur und Kunst (Stunksitzung, erstes Frauenkabarett u.a.), Bürger- und Sozialinitiativen (Frauenzentrum Köln-Ehrenfeld, Alte Feuerwache u.a.), Wohngemeinschaften, Anti-Imperialismus, Bildung, Gewerkschaften (der „Türkenstreik“ bei Ford u.a.) und Gegenöffentlichkeit (StadtRevue, taz).
Mit den Autoren sind weitere Lesungen und Diskussionen im Kölner Raum geplant, als nächstes im Friedensbildungswerk unter dem Titel „Zoff in der Friedensbewegung – zu alten und neuen Positionen – ein Streitgespräch“, Do 5.2. 19.30 Uhr, freier Eintritt. Aktuelles auf der Buchwebseite.
Colabor – Raum für Nachhaltigkeit (Vogelsanger Straße 187, Link) bietet einen gemeinsamen Arbeitsraum für Menschen, die an Projekten zur Nachhaltigkeit arbeiten und sich für neue Lebens- und Arbeitsmodelle einsetzen.
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