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Gelände der SSH von außen
Foto: Wolfgang Hippe

Gegenmodell zu Hartz IV-Politik

23. Dezember 2014

Die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) – Thema 01/15 Arm & Reich

Einmal im Jahr besuchen der TÜV und ein Versicherungsvertreter die Düsseldorfer Str. 74. Sie prüfen den Zustand der Gebäude und teilen etwaige Mängel der Stadt Köln mit. Denn die ist die Eigentümerin. Notwendige Reparaturen erledigen dann die Mieter des Areals – und das seit gut 35 Jahren. Die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) hat 1979 den damals heruntergekommenen Komplex nicht nur besetzt und ihn Zug um Zug bewohnbar gemacht, sondern auch „existenzsichernde“ Arbeitsplätze geschaffen. Es dauerte immerhin 13 Jahre inkl. zahlreicher Streits und parteipolitischer Skandale, bis die Besetzung legalisiert wurde. Zu den derzeitigen Bewohnern zählen mittlerweile 17 sozialpflichtig Beschäftigte. Das „Projekt der Selbsthilfe“ integriert „Menschen unterschiedlichster Herkunft und Altersstufen“, lobte denn auch Oberbürgermeister Roters (SPD) zum 30. Jahrestag der Besetzung: „Gerade in schwierigen Zeiten sind Initiative und Tatkraft gefragt“, um die „soziale Balance in der Gesamtstadt zu wahren und qualitativ gleiche Lebensverhältnisse in allen Veedeln zu erreichen“. Weitere Politiker äußerten sich ebenso positiv über die Zukunftsperspektiven, die die SSM Menschen eröffne, die auf dem Arbeitsmarkt eher schlechte Chancen hätten. Viel offizielle Anerkennung also für eine „Politik von unten“, die auf „erhaltende Sanierung statt Abbruch“ setzt und „Erwerbsarbeit und Selbstversorgung“ verbinden will, so Rainer Kippe, einer der SSM-Gründer. So versteht sich die Selbsthilfe denn auch als Gegenmodell zu der von Rot/Grün etablierten Hartz IV-Politik. Dazu gehört auch, dass sie sich schon in eigenem Interesse immer wieder ausdauernd in die Kommunalpolitik einmischt.

Stadtteilarbeit
„Für uns gilt alles, was wir für wichtig halten, als Arbeit“, so Rainer Kippe. Und so engagiert man sich neben dem Broterwerb (u.a. Wohnungsauflösungen, Entrümpelungen und Gebrauchtmöbelhandel) immer wieder für Projekte einer „sozialen Stadt“. Etwa für einen Erhalt des Barmer Viertels zwischen Messe und Bahnhof Deutz. Doch auch eine zwischenzeitliche Besetzung konnte die fast 400 Wohnungen nicht retten. Jahre später dient der „wertvollste Dienstleistungsstandort“ (so die Stadt) als Parkplatz. Gebaut wurde nach dem Abriss bis heute nicht.

Oder „Mülheim 2020“. Mülheim ist einer der Kölner Problemstadtteile mit hoher Arbeitslosigkeit, überdurchschnittlich kleinem Wohnraum pro Kopf und viel Multikulti. „Mülheim 2020“ sollte – von der EU gefördert – die „Wirtschafts- und Beschäftigungsbasis“ sowie die „Wohnungsfunktion“ verbessern und eine „Aufbruchsstimmung“ erzeugen. Dazu sollten Projekte in Sachen Bildung, lokaler Ökonomie und Städtebau „integriert“ entwickelt werden und dabei etwa die Industriebrache „Alter Güterbahnhof“ nahe der Keupstraße mit Leben erfüllt werden. Die bisher bekannten Ergebnisse sind eher ernüchternd. Von den rund 41 Mio. Fördergeldern konnte die Stadt nur 32 Mio. abrufen. Während die Mittel für neue Arbeitsplätze und die Wirtschaftsförderung unter der Hand schrumpften, floss mehr Geld als angesetzt in die Umgestaltung von Straßen zu „Flaniermeilen“. Dabei stört die Bewohner im Stadtteil weniger der Straßenverkehr. Eine echte Belästigung ist der nächtliche Fluglärm: Über dem Stadtteil verlaufen mehrere Flugschneisen des Flughafens Köln/Bonn. Doch dieses Problem dürfte im wahrsten Sinne des Wortes über dem Horizont der lokalen Politik liegen.

Selbst die städtischen Berater kamen bei ihrer Analyse der bisherigen „2020“-Ergebnisse zu einem wenig erfreulichen Ergebnis: nur eine „begrenzte“ Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, „keine wesentliche Stärkung der Geschäftszentren“ und „kein Aufholprozess“ bei der Arbeitslosenquote. Stört die offizielle Politik aber kaum. Wohl aber die SSM und ihre Mitstreiter, die von Anfang an den verengten Fokus der Stadt kritisiert und dazu eigene Pläne für das Areal des „Alten Güterbahnhofs“ entwickelt hatten.

Preisgekrönt
Es gibt also noch viel zu tun für SSM. Zumal die Selbsthilfe aus Mülheim kaum mehr wegzudenken und inzwischen sogar preisgekrönt ist. Die Jury des Preises „Soziale Stadt“ war von „dem Engagement und der beharrlichen Ausdauer beeindruckt, mit der die „Sozialistische Selbsthilfe Mülheim basisdemokratisch die lokale Ökonomie vor Ort gestärkt und weiterentwickelt, Projekte zur Hilfe und Selbsthilfe aufgebaut und ihr Quartier damit stabilisiert hat“ so überzeugt, dass sie ihr 2012 die Auszeichnung zuerkannte. Der Preis wird u.a. von AWO, Deutschem Städtetag und dem Deutschen Mieterbund getragen. Dazu befand die Jury, die SSM sei „mittlerweile ein Stück Köln“ und habe „das soziale Bild der Stadt mitgeprägt. Viele der angestoßenen und mitgegründeten Projekte existieren seit vielen Jahren und stehen beispielhaft für eine sozial nachhaltige Stadtentwicklung und Wohnumfeldgestaltung ‚von unten‘.“

Lesen Sie weitere Artikel zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema

WOLFGANG HIPPE

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