Es gehört zu den großen Kränkungen der Menschheit, dass das Ich nicht „Herr sei im eigenen Haus“. So hatte es Freud 1917 in einem Aufsatz formuliert. Wenn also wie in Nikolaj Gogols „Die Nase“ sich mit der Seele gleich ein Körperteil selbständig macht, dann ist diese Kränkung kolossal.
In der Bonner Werkstatt sitzt Kollegienassessor Kovalev mit Spongebob-Maske auf dem Stuhl und wartet auf sein Schicksal. Die Welt scheint wie in der Zeichentrickserie bereits aus den Fugen, um doch darin ihre Normalität zu beweisen. Maria Strauchs Kachel-Bühne mit Grünpflanze bedient jedenfalls die Klinik-Assoziation und unterläuft sie zugleich durch einen Fransenvorhang und ein Telefon. Kovalevs Welt zerfällt in einem einzigen Augenblick: Als sich seine Nase von ihm löst und auf eigenen Füßen durch die Welt geht. Timo Kählert in Uniformjacke und Unterhose ist ganz naiver Stupor und kindliches Entsetzen, er rollt sich am Boden zusammen und rudert wie eine Krabbe am Boden entlang. Sein Outfit macht die Peinlichkeit und Verletzlichkeit nachvollziehbar. Immer wieder verfällt er in Selbstzweifel. Doch gleichgültig, wo er um Hilfe nachsucht, bei der Polizei, bei einer Zeitung oder bei einem Arzt, überall schlägt ihm Unverständnis entgegen. Hinreißend Wilhelm Eilers, der mit Prinz-Eisenherz-Perücke und vollem Uniformornat alle Register der Groteske zieht. Die Stimme im Diskant spielt er virtuos auf der Klaviatur bürokratischer Behinderung.
Regisseur Frederik Werth versucht mit häufigen Licht-, Ton und Haltungswechseln Gogols Groteske mitunter zu überbieten, was unnötig ist. Weniger wäre mehr. So ist es ein Abend, der vor allem von den beiden Schauspielern lebt.
„Die Nase“ | R: Frederik Werth | 12., 19., 26.6. je 20 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Cis, WAP und Widerstand
Premieren im Rheinland – Prolog 11/20
Fröhliche Anarchie der Korruption
Premieren im April und Mai in Köln und Bonn – Prolog 04/20
Luft rein, Luft raus
„König Lear“ am Theater Bonn – Auftritt 04/20
Performance voller Marionetten
„Die Räuber“ im Bonner Schauspielhaus – Theater am Rhein 03/20
Mediales Königsdrama
„Apeiron“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 03/20
Gier und Gold
„Lieber Gold im Mund…“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 01/20
Die Unordnung der Welt
„Der eingebildete Kranke“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 01/20
Pathos und Narzissmus
Best-of-Stream von „Das süße Verzweifeln“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 02/21
Ich will tief leben
„Walden“ in der Studiobühne – Theater am Rhein 12/20
Spitzweg und Freelancer
Theater im Bauturm spielt Artaud – Theater am Rhein 07/20
Fühlt sich so Sozialismus an?
„Rosa Luxemburg“ im Theater im Bauturm – Theater am Rhein 03/20
Revolution und Vulva-Lolly
„Revolt. She said. Revolt again.“ am Freien Werkstatt Theater – Theater am Rhein 03/20
Hektik und Melancholie
„Fusseln“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 02/20
Wenn das Bürgertum erst einmal loslegt
„Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ im Depot 1 – Theater am Rhein 02/20
Erwachsenwerden durch Prostitution
Bolaños „Lumpenroman“ am Kölner Schauspiel – Theater am Rhein 02/20
Jugendtheater als Arbeit am Kanon
„Werther in Love“ am Comedia-Theater – Theater am Rhein 02/20
Höllenbrut im Schnee
„Die Verdammten“ im Kölner Depot 1 – Theater am Rhein 01/20
Mottenfraß der Korruption
„Null Komma Irgendwas“ im Freien Werkstatt Theater – Theater am Rhein 01/20
Geträumte Zeit
„We Have a Dream“ am Orangerie-Theater – Theater am Rhein 01/20
Punk-Ideale
„Vernon Subutex“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 12/19
Nicht ton-, aber sprachlos
Kleists „Marquise von O.“ in Bonn – Theater am Rhein 12/19