Geburtstagsgeschenke sind meist gut gemeint, aber oft nicht gut gewählt. Meist erzählen sie mehr über die Schenkenden als die Beschenkten, vor allem wenn es sich um Präsente der Eltern handelt. Paul (Julian Boine) bekommt von seiner Mutter ein Bild mit einer Klarinette überreicht und stellt sich also unvermeidliche die Frage „Wohin damit?“. Eigentlich ist Paul ein freundlicher junger Mann, ein bisschen zu reflektiert vielleicht, ein bisschen zu unentschlossen. Und er wirkt ein wenig gehetzt, wenn er immer wieder hinter sich schaut. Um ihn herum gruppieren sich unterschiedlich große transparente Boxen, in die seine inneren Stimmen verbannt sind: Ein Chor von sieben jungen Männern (Studierende der Schauspielschule des Theaters der Keller) in hochglänzenden Ganzkörperanzügen, die sich allerdings nicht lange einsperren lassen. Sie umtänzeln ihn, flüstern auf ihn ein, enthüllen seine inneren Widersprüche – ein unaufhörlich sich produzierender Haufen, den Regisseur Emanuel Tandler zu einem so hochmusikalischen wie komischen Reigen des innerseelischen Getöses choreografiert, das bekanntlich Identität heißt.
Doch das eigentliche Ziel der Produktion ist die Suche nach der Hysterie in der männlichen Persönlichkeit. Histrionische Persönlichkeitsmerkmale stehen längst allen Geschlechtern offen, auch wenn das in der Geschichte anders war. Als Animateurinnen männlicher Hysterie nimmt sich das Frauentrio Mathilde Morejoy, Morgan Sapiolin und Marianna Belartes (Susanne Seiffert, Annina Eulin, Brit Purwin) vom „Institut für hysterische Untersuchungen“ den wankelmütigen Paul zur Brust. Im Aufgalopp der Hysterietheoretiker von Charcot über Sigmund Freud bis zu Elisabeth Bronfen wird die vermeintliche Frauen-Krankheit einerseits als historische Konstruktion entlarvt. Andererseits macht das Trio in seinen blauen Trainingsanzügen die Bühne zum psychoanalytischen Bootcamp, in dem die Hysterie als Energiequelle, als Fun-Reservoir und Lebenselixir propagiert wird. Doch ihr Versuchsobjekt Paul ist ein schwerer Fall. Schon seine so zwanghaften wie effizienzbasierten Morgenrituale, für die er seine inneren Stimmen in Reihe ordnet, könnten eine hysterische Injektion vertragen. Doch seine Idiosynkrasie hinsichtlich von Seife mit Melonengeruch und die Problematisierung gut gekochter Spaghetti mit Hilfe animierter Tomaten lassen hoffen.
„Die Hysteriker“ entwickelt sich zu einem so absurden wie komischen Tanz um das „verknotete Subjekt“, das wir alle sind; dieses wunderbare Knäuel aus Widersprüchen, Einflüssen, Illusionen, Repräsentationen. Pauls Genesung rückt schließlich in Sichtweite. Seine Sinnkrise, sein Verzweifeln angesichts eines Lebens „ohne Salz“, das Gefühl, von allen Seiten gezogen zu werden, entpuppen sich als Quell der Hoffnung: Er steigt eine Traverse hoch, geht emotional in die Luft und streift sich schließlich ein farbenfrohes Lamettajäckchen über. „Vertrauen Sie in ihrer Hysterie“ lautet die Lehre der Medizinerinnentrios – wir sollte es beherzigen!
„Die Hysteriker“ | R: Emanuel Tandler | 1., 3., 14.4. 20 Uhr | Theater der Keller | 0221 31 80 59
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24
Einstürzende Bergwelten
„Monte Rosa“ am Theater der Keller – Prolog 02/24
Schleudergang der Pubertät
„Frühlings Erwachen: Baby, I‘m burning“ am Theater der Keller – Auftritt 11/23
Komik der Apokalypse
„Die Matrix“ im Theater der Keller – Theater am Rhein 10/23
Sonnenstürme der Kellerkinder
1. Ausbildungsjahr der Rheinkompanie – Theater am Rhein 08/23
„Die starke Kraft der Träume anzapfen“
Intendant Heinz Simon Keller über „Die Matrix“ am Theater der Keller – Premiere 08/23
Das digitale Paradies
Ensemble 2030 im Theater der Keller – Theater am Rhein 07/23
Essen, Scheißen und Fummeln
Charlotte Keller inszeniert „König Ubu. Oder wir sind am Arsch“ – Auftritt 07/23
Bots und Freiheitsträume
„Welcome to digital paradise“ am Theater der Keller – Prolog 06/23
Über den Tod: Eine Liebesgeschichte
Büchners Wiedergeburt am Theater der Keller – Theater am Rhein 04/23
Außenseiter der Gesellschaft
„Büchner“ am Theater der Keller – Prolog 03/23
Lehren des Widerstands
Theater der Keller: „Mädchenschule“ – Theater am Rhein 01/23
Wahllos durch die Zeitebenen
„Schlachthof Fünf“ am Theater im Ballsaal – Auftritt 04/24
„Ich mache keine Witze über die Ampel“
Kabarettist Jürgen Becker über sein Programm „Deine Disco – Geschichte in Scheiben“ – Interview 04/24
Das Theater der Zukunft
„Loop“ am Orangerie Theater – Prolog 04/24
Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Lesarten des Körpers
„Blueprint“ in der Außenspielstätte der Tanzfaktur – Prolog 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24
Schwarzblühende Bestie
„The Feral Womxn“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 02/24
Der Schlüssel zum Glück
Rheinkabarett mit neuem Stück in Bonn – Prolog 02/24