Europa rückt nach rechts. Und die Linke, die schaut zu? Dem Eindruck kann man sich derzeit nicht ganz erwehren. Die öffentlichen und politischen Diskurse werden gegenwärtig ganz klar von einer nationalistischen Agenda in den Ländern Europas dominiert. In den Niederlanden trieb der Rechtsaußen Geert Wilders die Parteien der Mitte bis zur Wahl vor sich her und Marine Le Pen schickt sich an französische Staatspräsidentin zu werden – im Falle eines Wahlsiegs kündigte sie bereits an, Frankreich aus der EU zu führen. Und in Deutschland hofft die AfD auf einer möglichen Bugwelle aus Wahlsiegen ihrer rechten Verbündeten in Europa gestärkt bis zur Bundestagswahl im September zu surfen. Die Ideen von Freihandel, Freizügigkeit und Humanität stehen, nüchtern betrachtet, gerade nicht hoch im Kurs.
Aber schaut die Linke tatsächlich nur zu? Die niederschmetternde Antwort lautet: Bis auf wenige Ausnahmen, ja. Auch, weil nicht wenige selbst eine Anti-EU-Agenda verfolgen. Statt Konzepte zu entwickeln, wie die EU demokratischer und sozialer gestaltet werden könnte, tun sie es den Rechten gleich und reden nicht selten einer Nationalisierung von Wirtschaft und Sozialem das Wort. Eine erfrischende Ausnahme bildet derzeit das Bündnis DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025), das der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis im Februar 2016 öffentlichkeitswirksam in der Berliner Volksbühne ins Leben gerufen hat. Das bei dieser Gelegenheit vorgestellte Manifest trägt im Titel eine düstere aber dennoch mögliche Prognose: „Europa wird demokratisiert oder es wird zerfallen“.
Mit seiner Aktion erntete Varoufakis neben Lob aber auch viel Spott – und das vor allem von links. Ein gut eingeübter linker Reflex bekrittelte, dass hier eine Basisbewegung von oben herab ins Leben gerufen werden soll. Die, die das kritisierten, waren aber vor allem diejenigen, die es in den vergangenen Jahrzehnten nicht geschafft hatten, die zweifelsfrei positiven Aspekte der europäischen Integration links zu interpretieren und eine progressive Meinungsführerschaft zu etablieren.
Nüchtern betrachtet mangelte es einer europäischen Linken in den vergangenen dreißig, vierzig Jahren an einer oder mehreren populären Gestalt(en), die einerseits die neoliberale Deformation der EU glaubhaft angegriffen hätte, ohne die Idee eines sozialen, menschlichen, solidarischen Europas zu verraten. Während Rechte, Konservative, Liberale, Grüne und Sozialdemokraten immer wieder prominent im öffentlichen Diskurs auftauchten und für ihre jeweilige Agenda trommelten, herrschte auf der Linken gähnende Leere.
Varoufakis versucht nun mit DiEM25 in dieses Vakuum vorzudringen, wobei die Kritik am Gründungsakt von DiEM25 nicht verfängt. Varoufakis ist nicht angetreten eine neue Kader-Partei leninistischen Typs zu gründen, nein, er nutzt lediglich seine Popularität, die er sich unter anderem mit dem Mittelfinger gegen Deutschlands Austeritätspolitik redlich verdient hat. Letztlich ist eine hybride Organisation im linken Spektrum im Entstehen begriffen. Auf der einen Seite gibt es wichtige aktivistische Momente innerhalb der Basis, die aber mit Aspekten eines Think-Tanks kombiniert werden. Dabei bringen sich Intellektuelle und Einzelpersonen ein, von denen einige nur ihren Namen zur Verfügung stellen und so für Reichweite und Prominenz sorgen, andere hingegen arbeiten konkret politisch. Und das scheint zu ziehen: Mittlerweile haben sich europaweit 70 Basisgruppen gegründet, 40 weitere sind im Entstehen begriffen. 10 bis 100 Menschen sind pro Gruppe aktiv, wobei es in den Städten mehr Aktive gibt, als auf dem Land. Insgesamt hat DiEM25 mittlerweile über 31000 Mitglieder von denen alle stimmberechtigt, aber nicht alle in den Gruppen aktiv sind.
Konkret gearbeitet wird derzeit an sechs Themen: Transparenz der EU, Migration, ein „europäischer New Deal“, Arbeit, „grüne“ Investitionen und eine europäische Verfassung. In einem ausgeklügelten System werden Positionen zwischen den Gruppen und einem Expertenkomitee ausgetauscht und zusammengefügt. Dem Expertenkomitee gehören Fachleute wie der Wirtschaftswissenschaftler James Galbraith an. Angelehnt an den New Deal Franklin Roosevelts aus den 1930er Jahren sollen alle Europäer in ihrem Heimatland das Recht auf einen angemessen bezahlten Arbeitsplatz, eine ausreichende Unterkunft, gute Gesundheitspflege und Ausbildung sowie auf eine saubere Umwelt haben. Dafür sorgen soll auch eine verfassungsgebende Versammlung für Europa in 2025.
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zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
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