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Thomas Jonigk
Foto: t+t Fotografie

„Das Aufbegehren geht auf die Nerven“

26. Januar 2017

Thomas Jonigk dramatisiert Bölls „Ansichten eines Clowns“ am Schauspiel Köln – Premiere 02/17

Am Ende sitzt Hans Schnier im Karneval vor dem Bonner Hauptbahnhof und bettelt. Ein Millionenerbe gibt den verarmten Außenseiter der Gesellschaft. Denn Hans Schnier stammt aus einer Industriellenfamilie, die in der Nazizeit reüssiert hat. Mit scharfem Blick für die Verlogenheit und Heuchelei seiner Zeit – der Roman spielt in den frühen 1960er Jahren – entschließt er sich zum Ausstieg aus der Familien-Dynastie und arbeitet als Clown. Er zieht mit der aus einem sozialistischen Elternhaus stammenden Marie zusammen, die sich allerdings dem katholischen Milieu zuwendet. Als sie aus der gemeinsamen Wohnung auszieht, bricht für Hans eine Welt zusammen. Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“ wurde bei seinem Erscheinen 1963 als Kritik an den alten, wieder erfolgreichen Eliten der Nazizeit sowie der katholischen Kirche interpretiert – was allerdings Bölls Intention zum Teil zuwiderlief, wie Regisseur Thomas Jonigk jetzt in seiner Dramatisierung am Schauspiel Köln zu zeigen versucht.

choices: Herr Jonigk, in Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“ spielt die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus der Nachkriegszeit eine zentrale Rolle – etwas, das wir heute so kaum noch nachvollziehen können. Was macht die „Ansichten“ trotzdem aktuell?
Thomas Jonigk: Dem Buch wurde immer vorgeworfen, es sei zeitgebunden und deshalb heute altmodisch, was ich nicht finde. Ich habe eine Erzählperspektive aus dem Rückblick gewählt. Das Geschehen spielt in den 80er/90er Jahren mit einem gealterten Hans Schnier, der von den Figuren der Vergangenheit wie in einem Albtraumspiel heimgesucht wird. Der Umgang mit dem Katholizismus und dem Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland bekommt dadurch eine andere Gewichtung. Wenn es eine Aktualität gibt, dann liegt sie in einer neuen Frömmigkeit und Religiosität in Deutschland, die quasi als Gegenmodell zu einer sogenannten „Islamisierung der Gesellschaft“ dienen sollen. Der religiöse Diskurs wird bei Heinrich Böll allerdings nur sehr knapp behandelt. In Absprache mit dessen Sohn René habe ich diese Passagen etwas aufgefüllt und versucht, daraus einen philosophischen Diskurs zum Thema Identität und Glauben zu machen.

Ist Hans nicht fast ein Klischee des Außenseiters der Gesellschaft: Der Unbehauste, der Mahner, der allergisch ist gegen jede, noch so sinnvolle Form von Ordnung? Kann man seinen Protest überhaupt ernst nehmen?

Thomas Jonigk
Foto: t+t Fotografie

Zur Person

Thomas Jonigk (*1966) ist einer der prägenden Autoren seiner Generation. Seit 1991 schreibt er Theaterstücke, Libretti und Romane. 2015 erschien sein jüngster Roman „Liebesgeschichte“. Als Regisseur arbeitete Jonigk u.a. an der Berliner Volksbühne, am Schauspielhaus Zürich sowie am Schauspielhaus Wien oder am Staatsschauspiel Dresden.

Wir nehmen seinen Protest wesentlich weniger ernst, als man das bisher getan hat. Hans Schnier ist bei uns Mitte 50 und trotzdem noch ein etwas infantiler, in der Pubertät steckengebliebener Mensch, der einem mit seinem ständigen HB-männchenartigen Aufbegehren auf die Nerven geht. Er hat sich keine eigenen Regeln für sein Leben geschaffen, sondern ist in einer Haltung des „Ich weiß es besser“ hängengeblieben. René Böll hat in einem Gespräch etwas Interessantes gesagt: Hans Schnier sei doch auch ein Parasit der Gesellschaft. Das ist in den 60er/70er Jahren unter den Tisch gefallen. Hans Schnier ist ein Kind sehr reicher Eltern und es gibt kein Indiz, dass er die Erbschaft nicht antritt. Seine Entscheidung Clown zu werden, ist nur ein Protest gegen die Eltern. Jemand, der ein verantwortungsvolles Leben lebt, trifft andere Entscheidungen.

Wie sind Sie auf diese Verschiebung in die 80er Jahre gekommen?
Dazu hat mich Bölls Nachwort angeregt, in dem er betont, wie schnell ein Roman zu einem historischen Roman werden kann. Schon in den 70er Jahren konnte kaum noch jemand den Skandal verstehen, den die „wilde Ehe“ von Hans Schnier und Marie zehn Jahre zuvor ausgelöst hat. Außerdem weist Böll auch auf das satirische Moment des Romans hin, das in der Rezeption fast völlig verloren gegangen ist. Die „Ansichten“ leben auch von einer grotesken Verzerrung. Diese Verzerrung hat mich dann zu dem Zeittunnel geführt, dass Hans Schnier mit Mitte 50 auf seine Eltern trifft, die wesentlich jünger sind als er.

Wieso wurde die kritische Sichtweise Bölls auf Hans Schnier damals gar nicht erkannt?
Die Verkitschung der Hans-Schnier-Figur hat natürlich mit der Studentenrevolte zu tun, die damals sich langsam entwickelt hat. Als ich in den 70er Jahren das Buch gelesen und später die Verfilmung mit Helmut Griem gesehen habe, habe ich mich auch mit Schnier als einem Opfer der Gesellschaft identifiziert. Das Dilemma dieser Figur ist, dass sie mit ihrer Kritik an Kirche und Nazizeit recht hat. Aber die Art, wie sie diese Kritik äußert, setzt sie ständig ins Unrecht. Umgekehrt hat Böll es geschafft bei aller Kritik an der Kirche glaubhaft zu machen, dass sie für manche Menschen ein Ort der Sehnsucht oder sogar der Erfüllung sein kann. Die Geschichte der Marie ist aus meinem Verständnis heraus eine Emanzipationsgeschichte. Sie befreit sich aus ihrem sozialistischen Elternhaus, aber auch von Hans Schnier und entscheidet sich gegen alle Widerstände für die katholische Kirche. Das ist erst einmal eine Leistung, die wir vielleicht heute befremdlich finden, aber darum geht es nicht. Das Buch ist viel differenzierter, als die Kritik damals gesehen hat.

Was bedeutet diese zeitliche Verschiebung in die 80er Jahren für den Blick auf die Eltern von Hans Schnier, die überzeugte Nazis waren?
Es verschiebt den Fokus. Man muss heute nicht mehr beweisen, dass Nazis Schuld tragen. In der derzeitigen Probenphase erscheinen die Eltern als sehr sensible Figuren, die unter den dauernden Anklagen ihres Sohnes leiden und wirklich versuchen zu bereuen. Das von der Mutter geleitete Komitee zur Überwindung rassischer Gegensätze ist durchaus als neues Lebensmodell gedacht. Es wäre doch schön, wenn man mit der Mutter mitfühlt und nicht mit dem rebellierenden Sohn. (lacht) Die Geistlichen sind bei uns ganz lässige Erscheinungen, intellektuell offen. Hans Schnier dagegen vergleicht dann ganz banal den Papst mit Adolf Hitler und das passt dann eben nicht. Er ist viel plakativer und weniger diskursfähig.

Mit Maries Rückzug beginnt Hans‘ Niedergang. Wieso hat er diesem Verlassenwerden nichts entgegenzusetzen? 
Diese vermeintlich große Liebegeschichte ist eben doch keine so große Liebesgeschichte, sondern eher ein Missverständnis. Marie ist immer eine idealisierte Figur von Hans gewesen. Sie kommt aus dem sozialistischen Milieu, war arm und bildete dadurch das Gegenmodell zu seiner Nazi-Industriellenfamilie. Insofern steckt in der Wahl eine Idealisierung und ein Protest. Die Energie, daraus eine große Liebesgeschichte zu machen, implodiert, wenn Marie ihn verlässt. Damit kippt nicht nur die vermeintliche Liebe, sondern das ganze Lebensmodell von Hans Schnier. Zum anderen sind alle Leute, mit denen er zu tun hat, entweder tot oder leben ihr eigenes Leben. Die Schwester ist im Krieg umgekommen, der Bruder abgehauen, der Vater hat eine Geliebte und die Mutter ihr Komitee. Niemand braucht Hans Schnier. Er treibt sich selbst in die totale Isolation und Unglaubwürdigkeit.

Lässt sich am Beispiel von Hans Schnier auch ein genereller Werteverlust, ob politisch, gesellschaftlich oder religiös, konstatieren?
Hans Schnier versteht sich als Künstler und Intellektueller, der wachrütteln will. Ohne dass er allerdings eine nennenswerte Wirkung erzielt. Für ihn ist der Himmel allerdings nicht leer. Wenn man ihn in den Himmel einladen würde, würde er vermutlich reingehen. Ich habe immer das Gefühl, dass er einfach nur geliebt werden möchte. Vor allem von seinem Vater. Würde das geschehen, würde Hans vermutlich viele seiner vermeintlichen Prinzipien aufgeben. Er hält sich letztlich alles offen. Trotz seiner Opposition bleibt er verführbar. Er geht allerdings Umwege, er mäandert, ist unentschlossen, extrem kompliziert, und das finde ich auch toll. Er ist sensitiv und nimmt wahr, wo gelogen, verdrängt und geheuchelt wird. Er ist ein Gradmesser für das, was nicht stimmt in der Republik. Darin könnte eine Form von Autonomie liegen, das könnte reizvoll und charmant sein, wenn er selbst denn charmant wäre – was er nicht ist.

„Ansichten eines Clowns“ | R: Thomas Jonigk | 11.(P), 12., 16., 21.2. 20 Uhr, 19.2. 17 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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