Erfolg und Spaß als Garant für menschliches Glück? So scheint es zunächst bei der Firmenparty im 13. Stock: Die Belegschaft feiert sich und das Unternehmen, doch dann stürzt sich einer der Mitarbeiter aus dem Fenster.
Alle sind in Champagnerlaune bis auf Victor, den Protagonisten der Handlung. Die Kollegen bedrängen ihn mitzufeiern, der Direktor hält eine Rede, die sich mit Neologismen wie „kreatabel“, „flexitiv“ und „innotabel“ selbst absurdum führt. Auf dem Höhepunkt der sinnentleerten Lobeshymne muss der Redner wegen Nasenbluten abbrechen. Victor führt die Ansprache in einer unverständlichen Kunstsprache zu Ende, deren Wortschatz aus verschiedensten Bezeichnungen für Antilopenarten besteht. Danach springt Victor aus dem Fenster, überlebt auf wundersame Weise und macht sich auf die Suche nach dem Glück. Auf seiner nächtlichen Wanderung durch die Stadt begegnet ihm jedoch nur Unglück: Ein junges Liebespaar durchlebt eine Krise, ein Kind sitzt alleingelassen von seiner Mutter im Café, damit sie in Ruhe ihre Massage genießen kann. Drei Ärzte auf dem Weg zum Nachtklub diagnostizieren Victor eine „afrikanische Depression“. Schließlich verschlägt es den Glückssucher in einen Zoo, wo er eine Antilope bedauert, die sich genau wie er nach einem Leben in Freiheit sehnt. Am Ende erwacht er aus seinem Tagtraum und befindet sich wieder auf der Firmenparty: Im Traum wie in der Realität bleibt Victor in seinem unerfüllten Leben gefangen, sämtliche seiner Kommunikationsversuche scheitern. Seine Sehnsucht nach menschlicher Beziehung bleibt ebenso unerfüllt wie die seiner feiernden Kollegen, die sich im Leerlauf kollektiven Spaßhabenwollens betäuben. Die Party geht weiter, als sei nichts geschehen.
Staud und sein prominenter Librettist, der Lyriker Durs Grünbein, schaffen ein Stationendrama in sechs Bildern, das sich der Stilmittel der Fabel und des absurden Theaters bedient. Der Protagonist„gerät bei seiner Reise durch die Nacht in die eigenartigsten Situationen, die sich ihm teils bedrohlich und entsetzlich, dann wiederum komisch und grotesk, stets auf der Kippe zwischen Realem und Irrealem, darstellen“, beschreibt der Komponist die Grundatmosphäre des Stücks. Stauds Musik charakterisiert ein konsequenter Stil-Pluralismus, jede der sechs Stationen des Dramas ist durch eine eigene Musiksprache gekennzeichnet:Die Angestellten stoßen zu einer beschwingten Unterhaltungsmusik in Champagnerlaune an. Dashohle Gerede des Direktors entlarven irrwitzige Intervallsprünge, während Victors Fortsetzung im Kontrast dazu durch kleine Intervalle und Glissandi gekennzeichnet ist.Sein expressiver Gesang in „Antilopensprache“ nimmt auch tierische Laute und das gesprochene Wort in sich auf, doch lässt ihn das Kauderwelsch immer wieder daran scheitern, verstanden zu werden.
Victor ist ein Flaneur in einer Gesellschaft, in der Kommunikation und zwischenmenschlicher Kontakt zunehmend verflachen. Er bleibt ein einsamer Beobachter, der unter seiner Beziehungslosigkeit leidet, ohne sie durchbrechen zu können – das macht ihn zu einem zeitgenössischen Charakter.
„Die Antilope“ | R: Dominique Mentha | 5.(P), 10., 18., 23.3. je 19.30 Uhr, 12., 26.3. je 18 Uhr | Oper Köln im Staatenhaus | 0221 22 12 84 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Liebe ist unausrottbar
„Krabat“ amMusiktheater im Revier – Oper in NRW 07/22
Im Stil der Commedia dell‘arte
„Il Barbiere di Siviglia“ an der Oper Köln – Oper in NRW 06/22
Was in die Stadt passt
Hein Mulders erste Spielzeit an der Oper Köln – Bühne 06/22
Der Klang der Straße
„Nordstadtoper“ in Dortmund – Oper in NRW 06/22
Doppelgala im Konzerthaus
Festival Klangvokal in Dortmund – Klassik an der Ruhr 05/22
Shakespeare trifft auf Berlioz
„Béatrice et Bénédict“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/22
Sympathy for the Devil
„Der Meister und Margarita“ an der Oper Köln – Oper in NRW 04/22
Eine Oper für Napoleon
„Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko“ in Dortmund – Oper in NRW 04/22
Der Venusberg im Hinterhof
Nuran Davis Caliș inszeniert Wagners „Tannhäuser“ in Wuppertal – Oper in NRW 03/22
Sterbt, aber tanzt
„Dances of Death“ auf PACT Zollverein – Tanz an der Ruhr 03/22
Ein schauriges Opernerlebnis
Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ in Essen – Oper in NRW 02/22
„Es wird ganz schön viel zu sehen geben“
„Hänsel und Gretel“ in der Oper Köln – Oper in NRW 01/22
Jazzig aufgepeppt
Das Theater Dortmund zeigt „Die lustige Witwe“ – Oper in NRW 01/22
Späte Ehre für Walter Braunfels
Oper Köln zeigt „Die Vögel“ – Oper in NRW 12/21
„Fünf Uhr, Zeit für den Tee“
„Alice im Wunderland“ als Weihnachtsmusical am Theater Hagen – Oper in NRW 12/21
Hochdramatisches Konzentrat
„Lucia di Lammermoor“ am Aalto Theater Essen – Oper in NRW 11/21
Singspiel aus dem Bilderbuch
„Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor“ – Oper in NRW 11/21
Opernregisseur mit Swing im Blut
Mozarts „La finta giardiniera“ in Essen – Oper in NRW 10/21
Zeitgenössische Oper in Köln
„L‘Amour de Loin“ von Kaija Saariaho – Oper in NRW 10/21
Stolze Malocher und fehlende Maloche
Gelsenkirchen – „Stadt der Arbeit“ – Oper in NRW 09/21