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Jonathan Weiss zu Gast im Filmhaus
Frank Brenner

Bemerkenswerte Ballard-Adaption

24. Januar 2024

„The Atrocity Exhibition“ im Filmhaus – Foyer 01/24

Dienstag, 23. Januar: In seiner Reihe „Zeitlos“ bringt der unabhängige und in Köln beheimatete Verleih „Rapid Eye Movies“ Perlen der Filmgeschichte auf die große Leinwand, wo diese zum Wiederentdecken einladen oder teilweise erst Jahrzehnte nach ihrer Uraufführung das erste Mal in Deutschland zum Einsatz kommen. So auch bei der einzigen Regiearbeit des Amerikaners Jonathan Weiss, „The Atrocity Exhibition“, der 1998 auf dem Internationalen Filmfestival von Rotterdam uraufgeführt wurde, jetzt aber erst 26 Jahre später in Köln in Anwesenheit des Filmemachers seine Deutschlandpremiere feierte. Verleihchef Stephan Holl zeigte sich begeistert, dass er Jonathan Weiss dazu persönlich in der Domstadt begrüßen durfte, zumal sich dieser längst aus dem Filmbusiness zurückgezogen hat – „The Atrocity Exhibition“ ist Weiss‘ erster und einziger Film! Seine Verfilmung einer nicht-narrativen Romanvorlage von J.G. Ballard („Crash“, „High-Rise“) ist einer der wenigen abendfüllenden nicht-narrativen Spielfilme, weswegen Weiss dem Premierenpublikum noch vor der Projektion des Films einen Ratschlag mit auf den Weg gab: „Versuchen Sie nicht, diesen Film zu verstehen, dafür wurde er nicht gemacht. Schauen Sie ihn sich einfach an!“ Gleichwohl machte er bereits in der Einführung deutlich, dass Ballard selbst voll des Lobes für den Film gewesen war und es letztendlich erst möglich gemacht habe, dass den Film überhaupt jemand zu Gesicht bekommt. Für die internationale Heimkinoveröffentlichung hatte der Kultautor gemeinsam mit Weiss auch seinen einzigen Audiokommentar zu einer seiner Adaptionen aufgenommen.


Stephan Holl im Gespräch mit Jonathan Weiss, Foto: Frank Brenner

Ausstellung der Abscheulichkeiten

Es ist allerdings nicht nur die nicht-narrative Form, die es dem Publikum schwermacht, „The Atrocity Exhibition“ vorbehaltlos zu genießen. Der rote Faden der Geschichte beschäftigt sich mit einem Psychiater, der selbst verrückt wird angesichts der Menschheitsgeschichte des 21. Jahrhunderts – die Ballard eben als „Ausstellung der Abscheulichkeiten“ (Atrocity Exhibition) umschreibt. Jonathan Weiss hat in seiner Verfilmung Bilder dafür gefunden, die teilweise nur schwer zu ertragen sind – Archivaufnahmen von Opfern des Vietnamkriegs und der Atombombenabwürfe über Japan, aber auch blutige Detailaufnahmen von Facelifting-Operationen gilt es da zu ertragen. Einige dieser Aufnahmen hat man seitdem auch in anderen Dokumentationen zu Gesicht bekommen. Aber beim Filmgespräch im Kölner Filmhaus erläuterte Weiss, dass er 1997 der Erste war, der diese Materialien im National Archive für den Einsatz in seinem Film heraussuchte. „Das konnte man ganz genau sehen, denn für jede dieser Aufnahmen musste man sich damals auf einer Karte eintragen, und vor mir hatte das in diesen Fällen noch niemand gemacht“, resümierte der Regisseur. Stephan Holl, der auch das Filmgespräch moderierte, gab zu, dass er an einigen Stellen im Film die Augen zum Selbstschutz schließen musste – und dass der Film einen an Orte bringe, an denen man noch nie zuvor gewesen ist. Weiss selbst habe den Film seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen und sei nach wie vor erstaunt, dass er ihn damals überhaupt machen konnte. „Aber es war es auf jeden Fall wert, etwas so Riskantes zu wagen. Außerdem ist der Film in seiner Machart ohne jegliche Manipulation. Das gibt es heute kaum noch, sogar TikTok-Videos sind überaus manipulativ!“, so Weiss.


Sprach über seinen einzigen Film: Jonathan Weiss, Foto: Frank Brenner

Ekstatische Transzendenz im Kino

Beeinflusst haben ihn bei der Herstellung nicht-narrative und Avantgarde-Filme wie „Der Spiegel“ von Andrej Tarkowski oder die Filme „The Last of England – Verlorene Utopien“ und „The Garden“ von Derek Jarman. „Diese Filme waren so kraftvoll, dass sie bei mir etwas in Bewegung setzten. Ich wollte meinen Film auf diese Weise gestalten“, kommentierte Weiss in Köln. Die Themen in Ballards Buchvorlage fand er so unglaublich, dass er diese in einen Film packen wollte, den es in dieser Art zuvor noch nicht gegeben hatte. „Ich wollte versuchen, einen Moment ekstatischer Transzendenz in einem Kino zu erleben – ganz ohne Drogen“, ergänzte der Regisseur. „The Atrocity Exhibition“ war bereits abgedreht, aber die Rechte an der Buchvorlage hatte Jonathan Weiss zu diesem Zeitpunkt trotzdem noch nicht. Über einen Freund ließ er Ballards Töchtern einen Rohschnitt auf Videokassette zukommen, die dann seinen Weg zum Autor fand. Dieser lobte das Ergebnis mit den Worten: „Die bemerkenswerteste Adaption eines meiner Bücher, ein Meisterwerk!“ Um die Verfilmungsrechte musste sich Weiss danach keine Gedanken mehr machen, Ballard half ihm sogar dabei, den Film fertigzustellen. Nach der Köln-Premiere wird „The Atrocity Exhibition“ ab dem 15. Februar deutschlandweit in den Kinos anlaufen, im Kölner Filmhaus ist er dort auch noch einmal am 25. und 26. Februar 2024 zu sehen.

Frank Brenner

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