Wladimir Putin ist ein Held. Nicht nur hat er das Coronavirus innerhalb von zwei Tagen von der Welt getilgt, auch hat er dafür gesorgt, dass der Nato-Mitgliedsstaat Deutschland seinen säumigen Verpflichtungen gegenüber dem Militärbündnis nachkommt. Kurzerhand sollen zukünftig zwei Prozent des BIP für die Armee aufgewendet werden, und als Bonus gibt es 100 Milliarden obendrauf.
Bevor hier ein falscher Eindruck entsteht: Der erste Satz war selbstverständlich nicht ernst gemeint. Und natürlich ist auch Corona nicht aus der Welt, also nicht aus unseren Lungen, sondern eher aus Teilen der Öffentlichkeit und damit aus Köpfen.
Es darf angenommen werden, dass Nato-Funktionäre dankbar sind, dass Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel – das noch 2017 als „absurd“ (damaliger Außenminister Sigmar Gabriel, SPD) und 2019 als „unsinnig“ (damaliger SPD-Vize Ralf Stegner) galt – auf einmal doch umsetzt.
Latente Rüstungsbegeisterung
Damit haben die Funktionäre etwas gemeinsam mit breiten Teilen der Bevölkerung Deutschlands. Es ist eine latente Rüstungsbegeisterung im Lande zu vernehmen. Führte der Krieg in Syrien 2015 noch zu einer als humanitäre Katastrophe wahrgenommenen Situation, muss seit Februar nicht (nur) den „armen Geflüchteten“ geholfen werden. Aus unvermuteten Mündern schallen militaristische Forderungen nach Waffenlieferungen, geopolitisch-wirtschaftliche Wünsche nach Sanktionen und nationalistische „Slawa Ukrajini“-Parolen. Und dann gibt es eben auch Beifall für einen im Handumdrehen neunstelligen Zuschuss für die Bundeswehr.
Die Weltlage hat sich verändert, jedenfalls vom Westen aus gesehen. Krieg ist nun nichts mehr, was sich in der Wüste, im Dschungel oder in den Geschichtsbüchern abspielt. Von Berlin nach Kiew ist es weniger weit als nach Italien, und es gibt auch keine Alpen, die den Weg versperren. Suchbegriffe wie Geopolitik sind nicht nur in der Tagespresse zu finden, sondern wurden Ende Februar fünfmal so oft gegoogelt wie zuvor.
Das Argument der Schusswaffenbefürworter in den USA ist ja: Solange die bösen Jungs mit Waffen rumlaufen, muss man sich ja auch verteidigen können. Auch wenn der Vergleich zwischen individuellen Recht auf Gewalt und staatlichem Gewaltmonopol etwas hinkt: Wir haben nun den Feind, gegen den man sich wehren können sollte.
„Was habt ihr angerichtet?“
Lange genug habe „der Westen“ den Frieden durch Wohlstand, Handel und Diplomatie gewahrt. Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, erhob im April schwere Vorwürfe gegen Angela Merkels „Kuschelkurs“ gegenüber Russland, und lud sie ein, sich die Schauplätze russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine anzusehen. Die Botschaft lautete: „Schaut, was ihr angerichtet habt!“
Es ist nur allzu menschlich, negative Folgen im Nachhinein zu sehen, die positiven aber nicht. War denn nicht dasfrisch besiegte Deutschland Gründungsmitglied der Montanunion, die später zum großen Friedensprojekt EU wurde? Wurde die Frage, ob die Volksrepublik oder Taiwan das „richtige“ China ist, denn nicht auf wirtschaftlichemWege gelöst? Die Zahl der Staaten, die die Volksrepublik anerkennen, korrespondiert mit ihren Wirtschaftspartnern.
Es mag gute, sogar hehre Gründe geben, die eigene Armee aufzurüsten und Waffen in die Ukraine (oder andere Kriegsgebiete) zu liefern. Und es gibt genauso edle Gründe, warum es eine Reihe von Gesetzen gibt, die dies verbieten. Vielleicht ist es Zeit, aufzuwachen. Menschheitsgeschichtlich ist Krieg der Normalfall und Frieden nur die Zeit dazwischen. Aber Menschen, die lesen und schreiben können, waren früher auch die Ausnahme.
ZEITENWENDE - Aktiv im Thema
tafel.de/themen/krieg-in-der-ukraine | Der Dachverband der deutschen Tafeln informiert auch in ukrainischer und russischer Sprache über Hilfsangebote.
der-paritaetische.de | Der Wohlfahrtsverband streitet für sozialpolitische Anliegen und berücksichtigt hierbei auch europäische Dimensionen.
caritas-international.de | Das Hilfswerk der deutschen Caritas informiert auch über Hilfsprojekte für die Ukraine und Möglichkeiten, selbst zu helfen.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Fragen an Baerbock
Außenministerin beim Bürger:innendialog in Bonn – Spezial 10/22
Kein Wille, kein Weg
Intro – Zeitenwende
Es wird ungemütlich
Die Russland-Sanktionen werden Armut und Krisen weltweit verschärfen – Teil 1: Leitartikel
„Es gibt nur eins: Rüstungs- oder Sozialstaat“
Armutsforscher Christoph Butterwegge über soziale Ungleichheit – Teil 1: Interview
In höchster Not
Der Kölner Verein Blau-Gelbes Kreuz organisiert Hilfe für die Ukraine – Teil 1: Lokale Initiativen
Fangen wir an, aufzuhören
Sicherheitspolitik auf Kosten der Umwelt – Teil 2: Leitartikel
„Wir brauchen einen Turbo bei Erneuerbaren“
Germanwatch-Sprecher Stefan Küper über Umwelt, Ressourcen und Zukunft – Teil 2: Interview
Der Krieg und das Klima
Das Bochumer Klimaschutzbündnis fordert transparente und engagierte Klimapolitik vor Ort – Teil 2: Lokale Initiativen
„Diplomatie ist keine Schönwetter-Praxis“
Kulturwissenschaftler Alexander Graef über politische Reaktionen auf den Ukraine-Krieg – Teil 3: Interview
Blühendes Forschungsfeld
Der Elberfelder Friedensgarten erkundet Verständigung auf Mikroebene – Teil 3: Lokale Initiativen
Aus der Krise fortgeschritten
Finnlands Herausforderungen gestern und heute – Europa-Vorbild: Finnland
Sparkapsel
Stolze Männer (voran!) - Glosse
Es ist nicht die Natur, Dummkopf!
Teil 1: Leitartikel – Es ist pure Ideologie, unsere Wirtschafts- und Sozialordnung als etwas Natürliches auszugeben
Wo komm ich her, wo will ich hin?
Teil 2: Leitartikel – Der Mensch zwischen Prägung und Selbstreifung
Man gönnt anderen ja sonst nichts
Teil 3: Leitartikel – Zur Weihnachtszeit treten die Widersprüche unseres Wohlstands offen zutage
Missratenes Kind des Kalten Krieges
Teil 1: Leitartikel – Die Sehschwäche des Verfassungsschutzes auf dem rechten Auge ist Legende
Wessen Freund und Helfer?
Teil 2: Leitartikel – Viele Menschen misstrauen der Polizei – aus guten Gründen!
Generalverdacht
Teil 3: Leitartikel – Die Bundeswehr und ihr demokratisches Fundament
Kult der Lüge
Teil 1: Leitartikel – In den sozialen Netzwerken wird der Wahrheitsbegriff der Aufklärung auf den Kopf gestellt
Die Messenger-Falle
Teil 2: Leitartikel – Zwischen asynchronem Chat und sozialem Druck
Champagner vom Lieferdienst
Teil 3: Leitartikel – Vom Unsinn der Debatte über die junge Generation
Das Gute ist real …
… mächtige Interessengruppen jedoch auch. Und die bedienen sich der Politik – Teil 1: Leitartikel
Fortschritt durch Irrtum
Die Menschheit lässt sich nicht aufhalten. Ihre Wege kann sie aber ändern – Teil 2: Leitartikel
Wir sind nicht überfordert
Die Gesellschaft will mehr Klima- und Umweltschutz – Teil 3: Leitartikel
Gefährliche Kanzel-Culture
Für mehr Streit und weniger Feindbilder – Teil 1: Leitartikel