Diese Frau ist purer Wille. Niemand habe bisher gewagt, sie anzufassen, nicht mal ihr Vater, donnert Marie dem verdatterten Woyzeck entgegen. Das gebrüllte „Rühr mich an!“ ist Warnung und Aufforderung zugleich. Die heruntergerutschten Strümpfe, der Strumpfhalter und hochgezogene Schlabberpullover evozieren eine Girlie-Anmutung, die falscher nicht sein könnte. Als sie schließlich von vier Männern gegen die Wand geworfen wird („Rühr mich an!“), entsteigt sie diesem brutalen Akt als triumphale Siegerin, während ihre Peiniger als erschöpfte Alphamännchen niedersinken. Doch diese Marie ist weniger Wille als Vorstellung. Nichtsdestotrotz, was will diese Frau mit dem jammervollen Titelhelden in Georg Büchners Szenenkonvolut? Diesem wahnverlorenen Würstchen, das in die Welt hineinhorcht. Seán McDonagh spielt ihn in Therese Willstedts Inszenierung im Depot 1 als einen hochsensiblen Seismographen gesellschaftlicher Willkür. Er ist auf ein Laufband gebannt, das im Spalt zweier gewaltiger Kachelwände im Bühnenhintergrund verschwindet.
Die Inszenierung liefert ein Kondensat des sowieso schon fragmentierten Materials. Sechs Figuren, keine Buden, kein Narr, kein Marktschreier. Dafür ein düsteres Spiel zwischen eingefrorenen Posen, gewaltigen Schlagschatten an den Wänden, dräuenden Geräuschstürmen. Der Irrsinn hat hier jede Figur im Griff. Robert Dölles Doktor führt den Umschlag von Melancholie in Sadismus vor, Jörg Ratjens Arzt siedelt mit seiner sich überschlagenden Stimme zwischen Caligari und Mengele, der Tambourmajor (Simon Kirsch) ist ein steroides Kraftpaket. Wenn alle sich zum Volksfest treffen, wird daraus ein Tanzvergnügen zwischen Berghain und spastischer Ekstatik. Mitunter gewinnt die Inszenierung fast opernhafte Züge, die jeder Figur ihre große „Arie“ zugesteht. Düsteres Musiktheater, das seine Ausweglosigkeit wie eine Standarte vor sich herträgt. Am Ende wiederholt Woyzeck die Phrasen seiner institutionalisierten Quälgeister freiwillig. Er hat die inhärente gesellschaftliche Gewalt internalisiert. Wie wir alle. Wehren ist zwecklos. Fatalismus kann so hinreißend artifiziell und selbstgenügsam sein!
„Woyzeck“ | R: Therese Willstedt | 29.4. 16 Uhr, 11., 19.5. 19.30 Uhr, 15.5. 19 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 284 00
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