Die Sommerferien neigen sich dem Ende zu, die Urlauber kehren heim. Geglückte Alltagsflucht. Oder Alltagsfrust am Flughafen? Wer nach dem Urlaub noch immer urlaubsreif ist, dem bietet auch die Heimat tagtäglich Rückzugsmöglichkeiten. Kein langer Urlaub auf der Insel, aber viele kleine Urlaubsinseln – auf der Leinwand. Ein paar Stunden raus, ein paar Stunden Kino. So kann man sich im August über Javier Bardem als „Der perfekte Chef“ beömmeln und mit Jordan Peele Außerirdischen begegnen („Nope“). Man kann an der Seite von Brad Pitt mit 350 Sachen im Zug bleihaltig durch Japan düsen („Bullet Train“). Oder dem Schicksal einer spanischen Familie beiwohnen, die eine Pfirsichplantage betreibt und vor dem Verlust ihrer Lebensgrundlage steht: Der tief berührende „Alcarràs – Die letzte Ernte“ gewann bei der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären.
Natürlich ist Kino mehr als Alltagsflucht. Raus aus dem Alltag oder mitten hinein. Flüchten oder menscheln. Kuscheln oder gruseln. Kick oder Erdung. Am Ende ist der hypnotisch ausgerichtete Blick auf die Leinwand immer eine Bereicherung. Und einzigartig: Jenseits unserer Alltagswelt versetzt uns kaum ein Ort so mitten ins Leben, ins Nah und ins Fern, wie die nackte Leinwand, sobald der Projektor sie mit Leben füllt. Wenn so gut wie alle Sinne angeregt sind. Wenn uns das Kino entführt, zur Raum-Zeitmaschine wird. Oder zum bloßen Spiegel. Es gibt immer einen Grund, ins Kino zu gehen.
Auf der Leinwand geht alles. Selbst das Reisen: Denn während die einen Kurzurlaub im Kino machen, machen andere aus dem Urlaub Kinofilme. Seit Hape Kerkelings Roman „Ich bin dann mal weg“ erkennen Pilger den Selbstdarsteller in sich und beleuchten ihre Erleuchtung mit der mobilen Kamera („Der Himmel über dem Camino“, „Nur die Füße tun mir leid“). Ähnlich beliebt: Kraxel-Abenteuer, besonders gern gesponsert von erfolgreichen Energydrink-Produzenten. So entführt uns im August „Die unendliche Weite des Himmels“ ins bergige Alaska. In „Namaste Himalaya“ wiederum strandet ein Paar in Nepal – und macht aus der Not eine Tugend, nämlich: einen Film draus. Und während unsereins in jungen Jahren ungefiltert die Ferne entdeckte, reist der 19-jährige Chris in „Facing Down Under“ nach Australien und eruiert Land und Leute durch den Sucher. Inwiefern dabei Erlebtes bloß gescriptet ist und Selbstfindung der Selbstinszenierung weicht, sei dahingestellt – beliebt sind derlei Formate so oder so.
Variante Drei: Im Urlaub ins Kino gehen! Andere Länder, andere Sitten – das gilt auch für die Lichtspielhäuser. Während Multiplexe international verlässlich standardisiert sind wie eine Burgerkette, kann der Besuch des kleinen Kinos um die Ecke in Madrid, Delhi oder Hobart einen ganz besonderen, ungewohnten Charme auszeichnen und das bewährte Kinoerleben bereichern. Der Autor erinnert sich noch heute beglückt an seinen Besuch eines kleinen Arthousekinos in der Hauptstadt von Tasmanien, wo er 2002 Tom Tykwers „Der Krieger und die Kaiserin“ in OmU erleben durfte. Kino ist überall.
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