Da sitze ich in der Pressevorführung von „Der Chor: Stimmen des Herzens“ und denke: Das ist ja alles schön gemacht und gut gespielt, aber, Entschuldigung: Diese Geschichte des Eigenbrötlers und Außenseiters, der ein besonderes Talent hat und irgendwann auf einen Mentor trifft und mit Disziplin und Entbehrung zum Erfolg geführt wird – das hab ich nun doch wirklich schon hundert Mal gesehen, zuletzt gerade erst in „Whiplash“. Nur ist es diesmal der Nachwuchssänger in einem Knabenchor und nicht der Nachwuchsschlagzeuger in einer Jazzband: Das marode Elternhaus. Die Förderer. Die Hürden. Der Wettkampf. Der amerikanische Traum. Nach dem Abspann im Foyer dann der Austausch mit zwei geschätzten Kolleginnen, die offensichtlich gerührt und beglückt sind. Die eine: „Ich mag solche Filme.“ Die andere: „Das können die Amis einfach.“
Manchmal, ja manchmal fragt man sich, ob das Kino bloß eine „Und täglich grüßt das Murmeltier“-Veranstaltung ist. Ja selbst das Endlos-Zeitschleifen-Rezept der Bill-Murray-Komödie von 1993 scheint sich nicht totzulaufen: Filme wie „12:01“, „Wake Up and Die“ bis zuletzt „Edge of Tomorrow“ setzen ihre Helden fortwährend auf Anfang. Auch die Liste des eingangs erwähnten Konzepts ließe sich unendlich fortführen, vor allem in Erweiterung auf das amerikanische Sportlerdrama. In Amerika hat das ja immer auch etwas mit Patriotismus und Stars & Stripes zu tun. Hier hingegen sind wir auch einfach so schlichtweg gerührt, wenn der nächste Nerd den Durchbruch schafft. Für 90 Minuten im Kino oder im 15-Minuten-Takt der Fernseh-Casting-Show. Wir sitzen vor der Leinwand und erwarten immer wieder das gleiche. Essen dazu das gleiche, trinken das gleiche. Und sind glücklich. Routine. Sicherheit. Beständigkeit. Und das ist doch schön. Zumindest, solang wir nicht am Ende so abgestumpft sind wie die Gesellschaft im Pixar-Science-Fictioner „Wall-E“: Dicke Menschen in mobilen Fernsehsesseln, mit dem Softdrink in der Hand und dem Monitor als einzigem audiovisuellen Bezugspunkt vor der Nase. Aber das sind Dystopien. Wer sagt denn, dass standardisierter Konsum nur negativ ist?
Nun, zuallererst die Produzenten, klar. Die müssen sich nichts Neues einfallen lassen und kennen die Treiber und Barrieren ihrer Kundschaft. Bewährt ist aber auch grundsätzlich nicht verkehrt. Das weiß das Kino nicht bloß, es beweist es auch immer wieder aufs Neue. Wenn es Gleiches, aber nie Dasselbe erzählt – siehe „Der Chor“. Zugleich aber bleibt Kino immer auch originär, innovativ, neu und frisch. So wie in diesem Monat mit „Das Märchen der Märchen“, der mal keine glatte Hollywood-Mär darstellt. So wie der maskierte Michael Fassbender in „Frank“. Oder unsere choice of choices „45 Years“. Bitte? Märchen, Maskierte, Ehedramen – das ist alles schon dagewesen? Aber doch nicht so! OK. Ich korrigiere: Jeder Film ist anders! Und jeder Film ist gleich! Das ist doch am Ende alles relativ. Und solange jeder im Kino das findet, was er sucht, ist die Welt doch in Ordnung.
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