Der Gedanke, dass nicht nur viel mehr in einem Film zu finden sein kann, als das, was sein Schöpfer hineingesteckt hat, sondern sein Werk sogar konträr zur Intention Wirkung entfalten kann, drängt sich zum Start der 67. Internationalen Filmfestspiele in Berlin einmal mehr auf. Als Präsident wird ein Regisseur der Jury vorsitzen, dessen eigene Filme über die Jahre zuverlässig polarisierende Interpretationen auslösten. Oft ging es dabei um die Frage, ob der Macher von „RoboCop“ oder „Total Recall“ denn nun anspruchsvolle Kunst oder höheren Schund schaffe. Ob er mit Streifen wie „Starship Troopers“ Sinn für Humor beweise oder bloß für gewaltverherrlichenden Trash. Und ob der Mann, der nicht nur mit „Basic Instinct“ auf die alte „Sex sells“-Masche setzte und Frauenverbände gegen sich aufbrachte, ein Chauvinist ist oder gar ein Feminist.
All die Unsicherheit gegenüber dem wahren Masterplan des 77-jährigen Niederländers poppt jetzt wieder auf – nicht nur, weil er maßgeblich mit darüber entscheidet, welche Filme mit Bären ausgezeichnet werden. Noch während die Berlinale läuft, startet außerdem Verhoevens erster Spielfilm seit zehn Jahren in den deutschen Kinos. Mit „Elle“, der seine Premiere im vergangenen Mai beim Wettbewerb in Cannes feierte, treibt der umstrittene Filmemacher wieder einen schönen, fetten Keil mitten hinein ins Publikum. Bemerkenswert ist dabei, dass positive Bewertungen bisher tendenziell von Zuschauerinnen abgegeben wurden, während viele Männer die als „Rape-Revenge-Thriller“ bezeichnete Geschichte als frauenfeindlich ablehnen. Liegt etwa Richard Brody in seiner ausführlichen Besprechung für „The New Yorker“ richtig, wenn er während des gesamten Films Verhoevens heimliches Gelächter zu vernehmen meint, als wäre er als Redner bei einem feministischen Kongress mit einem sexistischen Witz davongekommen? Die Wahrheit ist: Wir können es nicht wissen, weil eben nicht mal der Angeklagte selbst die volle Herrschaft darüber hat, was wie durch seinen Film wirkt. Oder welchen Anteil an Verwirrung die grandiose Isabelle Huppert – erfahren in der Darstellung von sexuell Uneindeutigem spätestens seit „Die Klavierspielerin“ – zu dem außergewöhnlichen Frauenporträt beisteuert, das eben kein Film ist, der eine irgendwie allgemeingültige Aussage über Vergewaltigung zu treffen hätte.
Sollte man nicht froh sein, wenn es ein Kunstwerk schafft, solches Unbehagen auszulösen? Denn dann muss wohl etwas schmerzlich Brisantes daran sein, was über den puren Unterhaltungswert hinausgeht. Es ist schließlich leichter, sich als Betrachter einem Thema wie sexueller Selbstbestimmung über eine Distanz auszusetzen. Über die kulturelle, wenn man sich darüber wundert, wie etwa im iranischen Drama „The Salesman“ eine Gewalttat totgeschwiegen wird. Oder über die historische in der Philip-Roth-Adaption „Empörung“, wo eine erotisch eigenständige Frau in der McCarthy-Ära pathologisiert wird.
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