In Folge der Belästigungs- und Vergewaltigungsvorwürfe gegen Harvey Weinstein, der über drei Jahrzehnte hinweg zahlreiche Frauen sexuell belästigt haben soll, kommen fast täglich neue Anschuldigungen gegen die Reichen und Mächtigen Hollywoods ans Licht. Es scheint fast so, als hätte die Filmbranche endlich ein offenes Ohr für Opfer von sexuellen Missbrauch und Belästigung gefunden, weswegen sich aktuell immer mehr Opfer gestärkt fühlen, ihre Geschichte zu teilen und mögliche Vertuschungen aufzudecken.
Nachdem Anschuldigungen gegen Kevin Spacey veröffentlicht wurden, reagierte der Streaming-Dienst Netflix zum Beispiel nur wenige Stunden später mit einem Statement, dass die Produktion an „House of Cards“ vorerst unterbrochen würde und diese Staffel die letzte sei. Auch wenn der Dienst verlauten ließ, dass diese Entscheidung schon vor einigen Monaten getroffen worden sei, und nicht in Zusammenhang mit den Anschuldigungen gegen Spacey stünde, ist das Timing unbestreitbar. Kurz darauf regierte nämlich auch Regisseur Ridley Scott und kündigte an, Spacey kurzerhand aus dem in sechs Wochen erscheinenden Film „Alles Geld der Welt“ herauszuschneiden.
Auch wenn es jetzt so aussieht, als würde Hollywood aufwachen und als Zeichen gegen sexuellen Missbrauch Taten statt Worte sprechen lassen, trügt dieses Bild zutiefst. Wieso wird ausgerechnet gegen Spacey so konsequent durchgegriffen, zumal auch in seinem Fall die Ermittlungen noch laufen. Wieso jetzt, wieso hat man nicht schon früher auf diese Art und Weise gehandelt, bei den vielen anderen Skandalen in Hollywood? Bei genauerem Hinsehen schleicht sich der Gedanke ein, dass dieses Handeln bloß von Timing regiert wird und, dass es, zum Beispiel beim Rausschneiden von Spacey aus einem aktuellen Film, nicht um die möglichen Opfer geht, sondern um die eigene Haut und das eigene Geld.
1977 wurde Regisseur Roman Polanski angeklagt mit dem Vorwurf, die damals 13-jährige Samantha Geimer vergewaltigt zu haben. Der Vorwurf wurde später auf unerlaubten Sex mit einer Minderjährigen herabgestuft, dessen sich Polanski als schuldig bekannte. Doch kurz vor der Verkündung des Strafmaßes floh Polanski, aus Angst vor einer längeren Haftstrafe, nach Europa und lebt seither auf der Flucht vor der US-Justiz. Trotz des Schuldgeständnisses wird Polanski noch immer als Filmemacher ausgezeichnet und gefeiert. Ähnliches gilt für Regisseur Woody Allen, der zwar nie angeklagt und verurteilt wurde, jedoch von seiner eigenen Adoptivtochter Dylan Farrow des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurde. Ein aktuelleres Beispiel wäre der Schauspieler Danny Masterson, der erst Anfang dieses Jahres in einen Skandal verwickelt wurde, als ihm drei Frauen Vergewaltigung vorgeworfen hatten. Und trotzdem: Polanski wird weiterhin ausgezeichnet, Allen dreht weiterhin erfolgreich Filme, Mastersons Comedy-Serie „The Ranch“ läuft weiterhin auf Netflix.
Vermutlich aus Angst, das plötzlich aufkeimende Interesse an Harvey Weinstein und Missstände innerhalb der Filmbranche könnte nun auch auf die Modebranche überschwappen, ließ die Condé Nast International Group, die Magazine wie Vogue, GQ und Glamour veröffentlicht, kürzlich verlauten, dass sie jegliche Zusammenarbeit mit dem Fotografen Terry Richardson beenden würde. Richardson, der für seine provokant freizügigen Fotografien bekannt ist, wurde bereits vor sieben Jahren von mehreren Models der sexuellen Belästigung beschuldigt. Auch für ihn blieb das allerdings weitestgehend ohne Konsequenzen, bis jetzt. Denn jetzt stimmt anscheinend das Timing. Jetzt ist die Angst, selber für die Zusammenarbeit mit einem möglichen Sexualstraftäter an den Pranger gestellt zu werden, zu groß. Auch hier wird also deutlich, dass man den möglichen Schaden am eigenen Namen eingrenzen möchte, da die öffentliche Aufmerksamkeit auch einen selber bedroht.
Der Skandal um Harvey Weinstein hat für Aufruhr gesorgt. Auf einmal ist die Aufmerksamkeit größer und weitreichender, auf einmal reagieren Unternehmen wie Netflix mit Konsequenzen. Es bleibt also abzuwarten was sich letztendlich aus den zahlreichen Vorwürfen ergibt und ob das Tabu um Belästigung, Missbrauch und Vergewaltigung auf Dauer jemals wirklich gebrochen und behandelt wird.
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