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Hat die Keupstraße immer wieder besucht: Nuran David Calis
Foto: Laura Schleder

„Systemabsturz der Werte“

28. Mai 2014

In seinem Stück „Die Lücke“ bringt Nuran David Calis die Opfer des NSU-Anschlags in der Keupstraße auf die Bühne – Premiere 06/14

choices: Worin besteht die Lücke, die ihr Stück im Titel führt?
Nuran David Calis:
Der Anschlag in der Keupstraße hat 2004 stattgefunden und die Bewohner haben sich als Opfer gefühlt. Sie wurden aber nicht als Opfer behandelt, sondern als Täter. Daraus hat sich ein tief sitzender Vertrauensverlust gespeist, ein Misstrauen gegenüber den Behörden und Institutionen. Es ist eine Kluft, ein Riss entstanden, die durch alle hindurchgeht. Mir war es wichtig auf diesen Riss im menschlichen Miteinander zu schauen, der durch die ganze Gesellschaft und die Republik mäandert. Was ist da zu Bruch gegangen in einem Land, das sich inzwischen als Einwanderungsland versteht, das attraktiv ist, in dem man sich frei und weltoffen fühlt? In dem sich im rechten Spektrum eine braune Armeefraktion entwickeln konnte, die türkische Mitbürger getötet und den Anschlag in der Keupstraße verübt hat?

Ist dieses Wohlfühl-Nebeneinander doch nur eine Fassade gewesen?

Ich bin selbst erschüttert, dass ich mich eine Zeit lang dieser Illusion hingegeben habe. Das muss ich wirklich sagen. Als 2011 bekannt wurde, dass die NSU für die Anschläge verantwortlich ist, war ich erschüttert, dass solch ein Systemabsturz über alle Institutionen, die die Zivilgesellschaft am Laufen halten, hinweg möglich war.

Wie haben Sie recherchiert?

Bereits im November 2011 dachte ich, darüber muss ich etwas machen. Ich habe dann begonnen zu recherchieren. Im Herbst 2012 kam dann das Kölner Schauspiel auf mich zu. Wir haben den Untersuchungsausschuss verfolgt, die lokale und bundesweite Berichterstattung aufgearbeitet. Ich habe den NSU-Prozess besucht, mich mit Opferanwälten getroffen, zum Beispiel dem Anwalt der Interessengemeinschaft Keupstraße oder mit Mehmet Daimagüler, der die Nebenklage vertritt. Wir haben auch mit Polizisten gesprochen, aber vor allem natürlich mit den Opfern auf der Keupstraße.

Wie schwer war es, bei den Bewohnern das Misstrauen zu überwinden?

Ich war erst skeptisch, weil ich 2008 bei dem Projekt „Stunde Null“ große Schwierigkeiten hatte. Hilfreich war, dass das Schauspiel Köln in Mülheim gelandet ist, das Haus also sichtbar ist. Am Anfang wollten natürlich alle wissen, was wir vorhaben, danach waren sie wie verwandelt. Alle Türen sind aufgegangen. Durch die Entdeckung der NSU als Täter wurden die Bewohner der Keupstraße quasi erlöst, und das haben sie auch so gesagt. Das war wie eine zweite Geburt für sie.

Welche Spuren hat der Anschlag und die anschließenden Ermittlungen bei den Bewohnern hinterlassen?

Die Keupstraße ist kein Mädchenpensionat. Die Bewohner dort sind sich auch nicht alle grün. Es gibt verschiedene Konfessionen, verschiedene politische Richtungen, das ist ein Mikrokosmos. Es war o.k., dass man dort ermittelt, aber es war nicht o.k., dass alles andere ausgeschlossen wurde. Ich unterstelle den Behörden weder Dummheit, noch Zynismus, aber in Akten haben wir den Vermerk gefunden, diese Art der Aggression sei nur aus dem Kulturraum der Südländer zu erwarten. Deutsche morden also nicht. Das sitzt.

Sie bringen drei türkischstämmige Laien auf die Bühne. Besteht nicht die Gefahr, dass Sie das Leiden anderer Menschen mit der durchaus guten Intention, sie zum Sprechen zu bringen, voyeuristisch ausstellen?

Manchmal muss man als Theatermacher zu einem falschen Mittel greifen, um für die Sache das Richtige zu erreichen. Ich glaube, den Leuten in der Keupstraße ist Unrecht getan worden. Sie hatten weder das Geld für einen Anwalt, noch konnten sie sich gegen die polizeilichen Ermittlungen zur Wehr setzen, noch eine Wiedergutmachung einklagen. Dann wurden sie von den Medien und der Presse auf schlimmste Weise behandelt, wurden mit Worten wie „Döner-Morde“ oder „Kripo Bosporus“ stigmatisiert und in ihrem Wesen tief verletzt. Und selbst die Presse hier in Köln hat sehr übel gewütet. Das hat die Bewohner zutiefst verletzt. Dem Aufmerksamkeit zu geben – das muss die Mehrgesellschaft und das Theater aushalten.

Es geht also darum, den Opfern eine Stimme zu geben im ganzen Geraune um die Täter.

Der tiefere Sinn des Abends ist, auf die Ambivalenz in der Gesellschaft hinzuweisen und die Idee zu formulieren, wie wir das Andersartige auszuhalten können. Wir müssen Mittel finden, dass wir parallele Strukturen in einer Gesellschaft auch akzeptieren. Ich habe kein Problem damit, wenn sich jemand nicht integrieren will. Ich habe ein Problem, wenn wir die Grundwerte des Miteinander torpedieren. Und wir dürfen nicht in die Versuchung kommen, die eine alleingültige Wahrheit über das Leben in einer Gesellschaft wie ein Tugendterrorist durchzuboxen. Eine multiethnische Gesellschaft kann wunderbar funktionieren, wenn man sich auf einen Grundgleichung einigt.

Warum als Gegenpol zu den drei Laien die drei Schauspieler?

Der Impuls war, nicht nur Leidende auf der Bühne zu haben, die sich mit dem Zuschauer austauschen. Ich misstraue mittlerweile diesem Prinzip, Laien an der Rampe stehen und etwas rausballern zu lassen. Ich wollte zugleich eine Art Stellvertreter auf die Bühne bringen, die mit ihrer Identität und ihrem Tun sich in Situationen bringen, die sie überfordern und Fragen aufwerfen. Das Theater ist für mich ein utopischer Raum, in dem Spiel entstehen kann. Ich möchte darin gerne Menschen aufeinander treffen lasen, die sich gegenseitig in Schwierigkeiten bringen. Wir versuchen in unserem Stück mit den Mitteln des Theaters der Realität, die uns umgibt, eine Form zu geben. Beide Parteien, also Laien und Künstler, arbeiten sich genau an der Nahtstelle zwischen Fiktion und Realität ab. Im Idealfall werden dabei Gedanken freigesetzt, es wirkt wie ein Katalysator. Der Zuschauer fühlt sich nicht belehrt, er hat die Chance, an diesem Diskurs der Protagonisten teilzunehmen. Er kann in seinem Kopf verschiedene Modelle durchspielen, sein eigenes Leben, seine Stadt, das Land hinterfragen. Schließlich funktioniert die Gegenüberstellung auch als Parabel auf die Schwierigkeiten der Gesellschaft, die sich durch die Morde einem kompletten Systemabsturz ihrer Werte ausgesetzt sieht. Diese Werte müssen wir jetzt erst mal wieder neu definieren. Wir müssen uns die Zeit nehmen, wieder Vertrauen in die Zivilgesellschaft aufzubauen, gerade auch auf Seiten der Migranten.

„Die Lücke“ | R: Nuran David Calis | 7., 11., 12.6. u. 1.7. 19 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 28 400

Nuran David Calis (Jahrgang 1976) studierte Regie an der Otto-Falckenberg-Hochschule in München. Zunächst drehte erKurzfilme und Videoclips für Hip-Hop-Bands. 2003 wurde sein erstes Theaterstück „Dog Eat Dog“ uraufgeführt. Für seine Inszenierung von Schillers „Die Räuber“ wurde er 2006 mit dem Wiener Theaterpreis „Nestroy“ als Bester Nachwuchsregisseur ausgezeichnet. Stückentwicklungen wie „Homestories“ in Essen und „urbanstories“ in Hannover machten ihn bundesweit bekannt. 2006 drehte er den Kinofilm „Meine Mutter, mein Bruder und ich“, für den er auch das Drehbuch schrieb. Seine viel beachtete Bearbeitung von Wedekinds „Frühlings Erwachen!“, die 2007 am Schauspiel Hannover herauskam, verfilmte er 2010 für das ZDF. 2011 veröffentlichte er den Roman „Der Mond ist unsere Sonne“. Nuran David Calis arbeitet an den Theatern in Bochum, Berlin, Dresden, Stuttgart oder Köln.

INTERVIEW: HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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