Lange schien es eine ausgemachte Sache zu sein, dass Religionen zunehmend an Bedeutung verlieren und sich im aufgeklärten Säkularismus auflösen. Doch während immer weniger Menschen in die Kirche gehen, verschwinden nicht automatisch ihre religiösen Bedürfnisse. Das spirituelle Verlangen entlädt sich an anderen Orten. Ob in Fußballstadien, in Achtsamkeitsseminaren oder auf Konzerten – nicht immer stehen Glaubensdogmen im Mittelpunkt dieser quasi-religiösen Events. Doch sie alle zelebrieren Gemeinschaft, stiften Sinn, geben Halt und schreiben Wertevorstellungen fest, an die alle Beteiligten glauben – sei es nur der Sieg der eigenen Mannschaft. Der polarisierte Diskurs der letzten Jahre lässt befürchten, dass die religiösen Gelüste wieder in einem Bereich ausgelebt werden, aus dem sie schon verbannt schienen: der Politik.
Rentenkassen statt Welterklärung
Schon vor hundert Jahren wurde der Bedeutungsverlust der Religionen wahrgenommen. Die Wissenschaft konkurrierte mit kirchlichen Dogmen und errang einen Sieg nach dem anderen. Gerichte verabschiedeten Gesetze, die unabhängig von Gottes Wort Gültigkeit beanspruchten und für das industrialisierte Großstadtleben lieferte die Bibel kaum mehr Trost und Rat. Dieser Siegeszug der Aufklärung wurde auch als Verlusterfahrung betrauert. Das Fehlen allumfassender Sinnkonstruktionen nannte der Philosoph Georg Lukács „metaphysische Obdachlosigkeit“. In einer aus den Fugen geratenen Welt fanden die Menschen dann Obdach für ihre spirituelles Bedürfnis in den politischen Religionen des 20. Jahrhunderts. Ob im Nationalismus, in dem die Vormacht der eigenen Nation oder „Rasse“ kultiviert wurde oder im Kommunismus, der den Himmel auf die Erde holen wollte, mit der klassenlosen Gesellschaft das Paradies versprach. Durch Massenzusammenkünfte, Personenkulte und Normsetzungen versammelten sie jene Eigenschaften, die aus politischen Bewegungen Ersatzreligionen schufen und in den blutigen Diktaturen des Nationalsozialismus und des Stalinismus pervertierten.
Von Querdenkern bis zur Identitätspolitik
Nach dem zweiten Weltkrieg ging man entsprechend vorsichtig mit solchen Heilslehren um. Politik sollte den Menschen nicht mehr die Welt erklären, sondern die Rentenkassen füllen. Heute treten die Extreme der politischen Lager aber wieder öfter sektiererisch auf, etwa auf Querdenken-Demos, wo von der großen Weltverschwörung fabuliert wird, die nur die Gemeinschaft der Eingeweihten durchschaut. Politische Heilslehren sind aber auch aufzufinden in den identitären Diskursen von Links und Rechts, die zunehmend in einen Kulturkampf kippen. Teile der identitätspolitischen Linken erblicken im alten, weißen Mann den Urgrund aller Übel. Auf der anderen Seite steht die identitäre Rechte, die ihre Normen und Traditionen angegriffen sieht und das Übel der Zeit im linksliberalen Milieu verortet. Dagegen zelebriert sie einen reaktionären Nationalismus, der Minderheiten abwertet und eine homogene Gemeinschaft herbeifantasiert. Der für die Demokratie lebenswichtige Dialog wird schwieriger. Wie soll er auch funktionieren, wenn nicht mehr über politische Beschlüsse diskutiert wird, sondern die eigene Weltsicht und Identität auf dem Spiel stehen?
Sicher, so weit wie in den 1930er Jahren sind wir bei weitem noch nicht. Doch ist gerade vor dem schmutzig anlaufenden Bundestagswahlkampf davor zu warnen, unsere politischen Ansichten mit unserem Bedürfnis nach Sinn, Identität und Spiritualität zu verwechseln. Unser Seelenheil sollten wir lieber woanders suchen. Und sei es im Fußballstadion.
Religonäre - Aktiv im Thema
house-of-one.org | Das interreligiöse Berliner Bauprojekt vereint eine Synagoge, eine Moschee und eine Kirche und wendet sich als Ort des Dialogs ausdrücklich auch an nichtreligiöse Menschen.
heimatkunde.boell.de/de/2020/12/17/interreligioeser-dialog-erfolgsentwicklung-oder-uebergangsphaenomen | Kritische Diskussion des interreligiösen Dialogs im migrationspolitischen Portal der Heinrich Böll Stiftung.
www.ibka.org | Der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten hat sich der Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte verpflichtet und betont die Freiheit, sich zu religiösen oder nichtreligiösen Weltanschauungen zu bekennen oder nicht zu bekennen.
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