„Was für ein Jahr“, haucht es allerorts erschöpft und schockiert. Das Politische war 2016 in seinem Irrsinn so präsent, dass man kaum Atem hatte, sich in Ruhe dem Film zu widmen. Dabei ist es natürlich Unfug zu meinen, man könnte das eine vom anderen trennen. Im Gegenteil: Der Blick auf die Filme ändert sich entsprechend des uns umgebenden Wirklichkeitsszenarios: Plötzlich kann man sogar in einem Familiendrama wie Xavier Dolans „Einfach das Ende der Welt“ die so häufig nach den letzten Wahlen in den USA und Deutschland beschworenen Abgehängten und Enttäuschten und ihre Wut erkennen. Und auch der Filmtitel passt vortrefflich in diese Zeiten. Dolan wird das nicht im Sinn gehabt haben, als er den Film 2015 drehte. Aber man kann so etwas im Spiegel der Gegenwart jetzt in diesem Film entdecken. In einem Kunstwerk steckt ja viel mehr als das, was der Künstler meint hineingesteckt zu haben. Und mitunter auch das Gegenteil von dem, was er im Sinn hatte. Das zeigen die unzähligen Kriegsfilme der Filmgeschichte, die eigentlich Antikriegsfilme sein wollten, aber selber der Logik und Ästhetik des Kriegs erlagen.
Wie ein Krieg wirkte auch der US-Wahlkampf. Oliver Stone sitzt sicher schon am Drehbuch von „Trump vs. Clinton“. Der Film kommt dann wahrscheinlich viel zu spät. Ähnliches schrieb gerade jemand auf Twitter: „In 20 Jahren wird das Hollywood-Drama ‚Aleppo‘ sieben Oscars gewinnen und alle werden sagen: So etwas darf nie wieder geschehen.“ Doch der Vorwurf greift zumindest im Fall Trump nicht. So wenig die zurückliegenden Ereignisse nachvollziehbar sind, so groß die Ratlosigkeit, wie man seinen Kindern einen Menschen wie ihn vermitteln soll: Die möglichen Konsequenzen eines solchen „Politikers“ – zumindest das haben diverse Hollywood-Menschen sehr schnell versucht zu vermitteln. Tom Hanks hielt eine viel beachtete Rede im Museum of Modern Art. Aaron Sorkin, Drehbuchautor von „Steve Jobs“, „The Social Network“, „Der Krieg des Charlie Wilson“ und der Serie „The Newsroom“ schrieb einen vielfach zitierten öffentlichen Brief voller Wut und Verzweiflung an seine Tochter.
Unter all den anderen öffentlichen Bekundungen aus Hollywood, die in den Tagen nach der Wahl kursierten, war die von Leslie Knope mit einer berührenden Parabel aus ihren Grundschulzeiten eine der schönsten. Leslie Knope ist Politikerin, und sie könnte an Stelle von Hillary Clinton einmal die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten werden. Doch sie gibt es nicht wirklich. Sie ist die Hauptfigur der politischen Comedy-Serie „Parks and Recreation“. Am Tag nach der Wahl hat sie sich mit ihrem Brief aber an die wirkliche Welt gewandt. Ob im Serienformat oder im Kinofilm – das als überwiegend liberal bekannte Hollywood wird sich in den nächsten Jahren vermehrt in die wirkliche Welt einmischen wollen. Und ähnliches wird man in Europa erleben. Ob nun explizit ausgesprochen oder nicht. Denn – wie Tom Hanks in seiner Rede sagte: „Movies capture everything about us, in one way or another.“ Die Filmredaktion wünscht ein gutes Filmjahr und ein friedliches 2017.
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