Es gibt sie noch, die Regie-Berserker, die mit jeder Inszenierung das Theater neu erfinden wollen, die uns etwas zeigen möchten, das es noch nie zu sehen gab, und die bekannten Stoff aus unerwarteten Perspektiven betrachten. Der Belgier Wim Vandekeybus zählt zu diesen Kämpfern auf der Bühne, die dem Publikum alles abverlangen und ihm – wenn die Inszenierung gelingt – Erlebnisse bescheren, die man nie wieder vergisst. Bei Vandekeybus verschränken sich die Künste. Der in Brüssel ansässige Choreograf bietet Arbeiten, die stets mit den Vorstellungen vom Gesamtkunstwerk flirten. Neben dem Tanz sind es Film und Theater, die Eingang in seine Inszenierungen finden, und mit der neuen Produktion kommen die Fotografie und die bildende Kunst hinzu.
Es war ein bahnbrechendes Ereignis für die Kunstwelt, als sich Joseph Beuys 1974 in der New Yorker Galerie René Block mit einem Kojoten einschließen ließ. Die Inspiration zu dieser Aktion verdankt er jedoch Birgit Walter, wie wir jetzt in Wim Vandekeybus’ neuer Produktion „Booty Looting“ in der EXPO XXI erfahren. Natürlich ist das Unsinn, Birgit Walter vom Schauspiel Köln gibt ihren Namen und ihren Körper für die Rolle einer von Vandekeybus erfundenen Figur. Eine fiktive Künstlerexistenz entwirft der Belgier. Oder besser gesagt: Er zeigt uns, wie man eine Biographie wichtigtuerisch aufbläst, wie sie medial zubereitet wird, um mythische Dimension zu gewinnen. Dazu bedarf es eines Moderators, der im Stil eines Kunsthistorikers mit Fernseh-Erfahrung ein Leben interessant schwätzt.
Wim Vandekeybus, einer der großen Choreografen Europas und Stammgast des Kölner Schauspiels in der Ära Karin Beier, hatte mit seinem wuchtigen, dunklen Ödipus-Projekt vor anderthalb Jahren bereits einen Erinnerungsmarkstein gesetzt. Jetzt bot er neben einer Medea-Version, bei der Birgit Walter als Medea drei erwachsene Söhne auf einem Fotokopierer tötet, eine vielstimmige Verballhornung jener Karriere-Storys, wie sie nicht nur die Gala, sondern auch die Kunstszene liebt. Viel Humor wird dabei freigesetzt. Die Idee, eine Künstlerin zu erfinden, ist nicht neu, Roberto Bolaño und Max Aub haben da schon imponierend vorgelegt. Vandekeybus’ Konzeption geht dennoch auf, da er gegen Ende enthüllt, dass seine umschwärmte Künstlerin Birgit Walter, die während der Aufführung unablässig fotografiert wird, eine Diebin sei, die ihre Einfälle der Inspiration anderer Menschen verdanke. Der mediale Hype wird denn auch zum eigentlichen Thema der Inszenierung.
Die Produktion behaupteter Gefühle – also der Kitsch – ist das Sujet des Belgiers. Die Fotografien von Danny Willems, die man auf einer Großleinwand geliefert bekommt, zeigen, wie das Leben im Moment festgehalten wird, wie es größer als die Wirklichkeit erscheint und diese Wirklichkeit dadurch verschwinden lässt. Klug ist das gemacht, mit den quicklebendigen Reaktionen des Musikers Elko Blijweert, dem maximalen Einsatz von Birgit Walter und den fünf brillanten Akteuren aus Vandekeybus’ Ensemble. Verblüffend sind auch die Choreografien, die der Inszenierung ein eigenes kraftvoll-gewalttätiges Muster aufdrücken. Davon könnte es mehr geben, zumal sich die Inszenierung mitunter in kalkulierten Zerstörungsexzessen verliert. Dramaturgisch findet Vandekeybus nicht immer das richtige Maß, so dass die Inszenierung ohne Not an Intensität einbüßt. Dennoch bleibt viel Substanz, wenn die Bilder vom Schmerz einer von den Medien missbrauchten Medea erzählen. Andererseits besitzt Vandekeybus eben auch den Humor, um die weihevollen Sentimentalitäten des Kunstbetriebs zu verlachen. Und immerhin sind die Experimente, die nicht komplett funktionieren, häufig ja diejenigen, von denen man die größte Anregung erhält.
„Booty Looting“ | R: Wim Vandekeybus | 13./14./15.6. | Schauspiel Köln, EXPO XXI, Gladbacher Wall 5 | www.schauspielkoeln.de
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