Nach dem Brandanschlag auf das Haus der Familie Arslan 1992 in Mölln, bei dem drei Familienangehörige getötet wurden, bekam die Familie ca. 800 Briefe aus ganz Deutschland, die damals ins Stadtarchiv verbracht wurden. Anlässlich des bevorstehenden 30. Jahrestages im November nimmt sich Nuran David Calis dem Anschlag in bewährter Manier an: Kristin Steffen und Stefko Hanushevsky sorgen für die Mischung aus früherem scheinnaivem Nichtwissen und heutiger erkennender Empörung, Ismail Deniz für die migrantische Wutemphase. Eingespielte Interviews der Familie Arslan und anderen stellen Authentizität her. Das Performer-Trio wechselt zwischen Schreibtisch, Kamin und fahrbarem Kinderzimmer (Bühne: Anna Ehrlich); inhaltlich empört man sich über Botho Strauß‘ Essay „Anschwellender Bocksgesang“ (1992) oder Helmut Kohls Abwesenheit bei der Beerdigung der Getöteten. All das dient als Futter für Calis‘ theatrale Empörungsmaschine, die wie schon bei „Die Lücke“, „Istanbul“ oder „Die Lücke 2.0“ reibungslos vor sich hinschnurrt. Und das Publikum applaudiert stehend – betroffen, wie man vermuten darf. Calis‘ Kölner Stücke arbeiten an einer antirassistischen Erinnerungskultur – was zu begrüßen wäre, wenn ihre ästhetischen Mittel nicht selbst zum Ritual erstarrt wären: Als da sind die Pathos- und Authentifizierungsformeln, die schematischen Beicht- und Erkenntnisethiken in parsifaleskem Zuschnitt („durch Mitleid wissend, der (un)reine Tor“), die Überweisungen von migrantischen „Wutbanken“ – als Ertrag für das Publikum steht eine kathartische Betroffenheit. Ein Entkommen gibt es nicht.
Mölln 92/22 | R: Nuran David Calis | 14., 19., 27.5. 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
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