choices: Herr Gaedt, ist eine Vier-Tage-Arbeitswoche sinnvoll?
Martin Gaedt: Eine Vier-Tage-Woche ist dann sinnvoll, wenn Unternehmerinnen und Unternehmer bereit sind, ihre Prozesse aufzuräumen. Das bedeutet: Überall da, wo die Vier-Tage-Woche messbare Erfolge bringt, haben die Unternehmen vorher angefangen, Dinge im Unternehmen so zu verändern, dass man tatsächlich in weniger Arbeitszeit sogar mehr leisten kann. Ohne eine zusätzliche Überlastung, sondern – im Gegenteil – durch eine Entlastung.
Führt es nicht eher zu einer höheren Belastung? Es gibt ja auch Konzepte, bei denen die Arbeitszeit gleich bleibt, nur eben auf vier Tage verteilt.
Es gibt Konzepte, bei denen das so ist, z.B. beim belgischen Modell, das in Deutschland aber kaum Verbreitung findet. Also ich schätze die Zahl der Unternehmen mit einer Vier-Tage-Woche in Deutschland aktuell auf rund 30.000 bis 40.000 – genauere Zahlen gibt es da leider nicht. Und sie alle haben die Arbeitszeiten reduziert, innerhalb eines Spektrums auf 39, 38, 37, 36, 35, 34, 32, 30 Stunden bei voller Bezahlung. Da haben wir auch schon den entscheidenden Unterschied zur Teilzeit. Es wird wirklich aufgeräumt, ausgemistet und anschließend die Arbeitszeit reduziert. Dann schafft man in derselben Zeit sogar mehr.
„E-Mails werden nur zweimal am Tag zugestellt“
Was meinen Sie mit Aufräumen und Ausmisten?
Das ist natürlich von Branche zu Branche extrem unterschiedlich. Zwei Beispiele. Eins aus der Steuerberatung. Die SKS-Steuerberatung in Dresden hat stille Stunden eingeführt: Von 10 bis 12 und 14 bis 15 Uhr klingelt kein Telefon. Und E-Mails werden nur zweimal am Tag zugestellt, d.h., in der Vier-Tage-Woche macht es nur achtmal am Tag Bing. Und diese beiden Maßnahmen haben dazu geführt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fokussierter arbeiten können. Inzwischen schaffen sie in 34 Stunden mehr und zwar stressfreier als vorher in 40. Ein zweites Beispiel aus dem SHK, also Sanitär-Heizung-Klimaschutz-Handwerk, ein Unternehmen aus München. Es hat zwar erst im Januar mit der Vier-Tage-Woche begonnen, sie aber schon ein halbes Jahr lang vorbereitet, indem sie zuerst die Prozesse aufgeräumt haben. Das beginnt damit, ob jemand pünktlich kommt, ob Baumaterial rechtzeitig geliefert wird. Inzwischen liefern sie z.B. das ganze Baumaterial immer schon einen Tag vorher. Davor war es eben so: Man kam Montag auf die Baustelle und wenn kein Material da war, dann musste man erstmal zum Baumarkt fahren, hin und her telefonieren. Dann war Mittag und man hatte noch gar nichts geschafft. Inzwischen werden die Materialien spätestens am Freitag angeliefert und Montag um sieben kann gearbeitet werden. Das sind so kleine Dinge, die sich in der Summe aber zu unfassbar großen Arbeitszeitmengen summieren. Oder ein Bautrocknungsunternehmer in Thüringen hat alle Werkstattwagen gleich eingerichtet. Das bedeutet, egal wer in welchem Wagen auf die Baustelle fährt, er weiß immer, wo alles liegt. Auch das ist bei rund 140 Projekten, die das Unternehmen im Monat betreut, ein unfassbarer Zeitgewinn. Dieser Handwerksbetrieb hat es wirklich geschafft, die Arbeitszeit von 40 auf 32 Stunden zu reduzieren, bei vollem Lohn. Und der Unternehmer sagt: Er macht heute mehr Umsatz, mehr Gewinn, aber vor allen Dingen kriegt er auch mehr gute Bewerbungen.
„Der Krankenstand sinkt so, dass kein zusätzliches Personal benötigt wird“
Gerade im Dienstleistungssektor muss eine gewisse Erreichbarkeit sichergestellt sein. Patienten oder Kunden müssen betreut werden. Braucht es da zusätzliches Personal?
Krankenhäuser und Hotels sind ja die, die 24/7 offen bleiben. Sie sagen natürlich nicht: Ach, dann haben wir drei Tage zu. Nein, Krankenhäuser und Hotels bleiben weiterhin sieben Tage offen. Das, was ich bisher von dort beispielsweise höre, aus ganz unterschiedlichen Quellen, ist, dass der Gesundheitsstand sich stark verbessert und der Krankenstand so messbar sinkt, dass kein zusätzliches Personal benötigt wird. Das ist der Hauptfaktor, weshalb die ganze Debatte um „Wir müssen alle mehr arbeiten“ völlig kontraproduktiv ist. In den letzten Jahren sind die Krankenstände immer hochgegangen, ebenso wie Burnout und Rückenleiden. Das ist eindeutig messbar. Alle Unternehmen mit einer Vier-Tage-Woche hingegen berichten, dass sie tatsächlich die geringere Arbeitszeit ausgleichen können mit mehr Gesundheit. Es ist wirklich Wahnsinn. Mich hat es auch persönlich komplett überrascht. Ich komme ja nicht aus einer Vier-Tage-Woche. Bei Instagram habe ich im Oktober '22 den Hashtag #viertagewoche eingegeben, als alle behauptet haben, es ginge nirgendwo außer vielleicht in so ein paar Remote-IT-Klitschen. Schon damals fand ich tausende Handwerksbetriebe, die es gemacht haben, Pflegeeinrichtungen. Inzwischen eben auch Krankenhäuser, Kitas usw. Es läuft in allen Branchen und alle berichten dasselbe: Mehr Umsatz, mehr Gesundheit, mehr Erholung. Und natürlich hängen die Dinge miteinander zusammen.
„Binnen zehn Monaten 72 Tonnen CO2 eingespart“
Wäre es auch nachhaltiger, einen Tag pro Woche weniger zu arbeiten?
Absolut. Auch da gibt es inzwischen Berichte von Unternehmen. Ein Straßenbauunternehmen aus Wien mit 450 Mitarbeitenden – sie haben es '22 eingeführt – hat schon in den ersten zehn Monaten 72 Tonnen CO2 eingespart und 160.000 Euro Sprit- und Wartungskosten. Denn natürlich sind die Fahrzeuge einen Tag weniger auf der Straße. Und wenn man das mal auf eine Million Handwerksbetriebe in Deutschland hochrechnet, die ja fast alle zur Baustelle fahren und wieder zurück, kann man sagen, das sagen auch immer mehr Klimaschutzstudien: Eine Vier-Tage-Woche bringt sozusagen per Knopfdruck eine CO2-Reduzierung um 20 Prozent.
„Care-Arbeit unter Frauen und Männern gleicher verteilt “
Wie wirkt es sich auf den Konsum aus? Sagt man vielleicht auch eher, am freien Tag besuche ich Menschen, die ich lange nicht gesehen habe – statt shoppen zu gehen?
Auch das ist zum Glück inzwischen vielfach und auch länderübergreifend belegt, dass die Mehrzahl der Menschen – es sind ja nie 100 Prozent – mit einer Vier-Tage-Woche die Zeit nutzen, um Sport zu treiben, die Familie, Tante, Onkel, die Oma zu besuchen. Aber natürlich auch Fragen zur Care-Arbeit, die so unter Frauen und Männern gleicher verteilt werden kann, lassen sich hier beantworten. Dazu entsteht auch ganz viel Engagement im Ehrenamt, auf einmal hat man beispielsweise doch am Freitag die Zeit, im Fußballverein eine Mannschaft zu trainieren oder kann auch selbst Sport treiben. Und: Es wird gesünder gekocht und gegessen.
Weil man dafür mehr Zeit und Ruhe hat.
Richtig.
„Leistungsstarke Mitarbeiter haben auch leistungsstarke Hobbys“
Für Arbeitnehmer lohnt sich also die Vier-Tage-Woche?
Es lohnt sich, wenn man es ernst meint. Es gibt auch Unternehmen, die zu einer Fünf-Tage-Woche zurückgekehrt sind. Beispielsweise ein Produktionsunternehmen, das den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von jetzt auf gleich ein Schichtsystem von 4 Uhr morgens bis Mitternacht vorgeschrieben hat. Da haben die Mitarbeiter zu Recht gestreikt. Ich habe inzwischen mit hunderten Unternehmen gesprochen. Bei denen, die es ernst meinen und ihre Mitarbeitenden in den Veränderungsprozess mit einbeziehen, da funktioniert es meiner Beobachtung nach immer, weil es sozusagen eine Kette aus positiven Effekten gibt. Andreas Schollmeier, der auch gerade Buch dazu geschrieben hat, sagt: Die vielen Verknüpfungen, diese vielen positiven Effekte, konnte er vorher gar nicht kennen. Aber man erlebt sie dann. Dazu gehört eben auch, dass alle Betriebe mit einer Vier-Tage-Woche sagen, sie würden von guten Bewerberinnen und Bewerbern überrannt. Die öffentliche Meinung – die, die es nicht ausprobiert hat – hält immer dagegen: Ja, dann kommen die ganzen Loser und Faulenzer. Nein, das genaue Gegenteil ist der Fall. Mir hat ein Malermeister aus Lübeck berichtet, dass sein neuer Azubi gerade wegen der Vier-Tage-Woche gekommen ist und er der leistungsstärkste Azubi sei, den er je hatte. Denn er ist stark im Job, aber er hat auch starke Hobbys, und dafür braucht er diese freie Zeit. Und diese Korrelation sehen nur die, die es ausprobieren. Die leistungsstarken Mitarbeiter haben auch leistungsstarke Hobbys, und deswegen nutzen sie zuallererst drei Tage Freizeit, wenn sie ihnen angeboten wird.
„Eine extreme Wertschätzung den Mitarbeitenden gegenüber“
Arbeitgeber werden dadurch also automatisch attraktiver?
Automatisch, ja. Was signalisiert denn ein Unternehmen, das sagt „Ich führe die Vier-Tage-Woche ein“? Ich habe die Prozesse aufgeräumt, ihr kriegt denselben Lohn, weil wir dasselbe schaffen oder sogar mehr. Sie signalisieren zwei Dinge: Eine extreme Wertschätzung den Mitarbeitenden gegenüber, und sie sind per se in dem Moment innovativer als der Durchschnitt der Branche. Das habe ich bei ganz vielen Unternehmen beobachtet: Sie sind im doppelten Sinne innovativer in ihren Branchen. Und das gibt ihnen gleichermaßen einen doppelten Vorsprung bei weiteren Änderungen.
„Unternehmen mit unattraktiven Arbeitsbedingungen haben zu Recht einen Fachkräftemangel“
Kann es auch dem Arbeitskräftemangel entgegenwirken?
Ich bin fest davon überzeugt. Dieser Fachkräftemangel ist ja auch ein Gespenst. Wir hatten im letzten Jahr ein Rekordjahr der Erwerbstätigkeit in Deutschland – mit 46 Millionen Erwerbstätigen. Das ist die höchste Zahl, die jemals in Deutschland gemessen wurde. Und die Unternehmen, die z.B. eine Vier-Tage-Woche haben, oder auch andere, die z.B. die 25-Stunden-Woche bei vollem Lohn haben, haben keinen Fachkräftemangel. Diejenigen, die unattraktive Arbeitsbedingungen haben, haben also zu Recht einen Fachkräftemangel, weil dort keiner arbeiten will. Aber sie jammern am lautesten. Und Unternehmen mit einer Vier-Tage-Woche oder auch anderen attraktiven Modellen haben das Problem des Fachkräftemangels nicht. Also muss man sich eher fragen: Was heißt denn Fachkräftemangel eigentlich? Heißt es nicht viel eher, die Unternehmen, die ihn haben, haben unattraktive Arbeitsbedingungen?
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Gefahrenzulage
Intro – Arbeit oder Leben?
Sinnvolle Zeiten
Teil 1: Leitartikel – Wie Arbeit das Leben bereichern kann
Bereicherte Arbeit
Teil 1: Lokale Initiativen – Der Verein Migration und Arbeitswelt
Verfassungsbruch im Steuer-Eldorado
Teil 2: Leitartikel – Die Reichsten tragen hierzulande besonders wenig zum Gemeinwohl bei
„Das kann man mit keiner Gerechtigkeitstheorie erklären“
Teil 2: Interview – Historiker Marc Buggeln über Steuerpolitik und finanzielle Ungleichheit in Deutschland
Vermögenssteuern für Klimaschutz
Teil 2: Lokale Initiativen – Co-Forschungsprojekt betont sozio-ökologische Herausforderung
Über irrelevante Systemrelevante
Teil 3: Leitartikel – Wie Politik und Gesellschaft der Gerechtigkeitsfrage ausweichen
„Die Gesellschaft nimmt diese Ungleichheiten hin“
Teil 3: Interview – Soziologe Klaus Dörre über Armutsrisiken und Reichtumsverteilung
Betroffen und wehrhaft
Teil 3: Lokale Initiativen – Wuppertals Solidaritätsnetzwerk
Bildung für mehr Miteinander
Pflichtfach Empathie – Europa-Vorbild Dänemark
Der heimliche Sieg des Kapitalismus
Wie wir vergessen haben, warum wir Karriere machen wollen – Glosse
„Früher war Einkaufen ein sozialer Anlass“
Teil 1: Interview – Wirtschaftspsychologe Christian Fichter über Konsum und Nostalgie
„Nostalgie verschafft uns eine Atempause“
Teil 2: Interview – Medienpsychologe Tim Wulf über Nostalgie und Politik
„Erinnerung ist anfällig für Verzerrungen“
Teil 3: Interview – Psychologe Lars Schwabe über unseren Blick auf Vergangenheit und Gegenwart
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 1: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 2: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 3: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
„Die Bürger vor globalen Bedrohungen schützen“
Teil 1: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union
„Mosaik der Perspektiven“
Teil 2: Interview – Miriam Bruns, Leiterin des Goethe-Instituts Budapest, über europäische Kultur
„Der Verkauf des Kaffees nach Europa ist gestoppt“
Teil 3: Interview – Sebastian Brandis, Sprecher der Stiftung Menschen für Menschen, über das EU-Lieferkettengesetz
„Tiefseebergbau ohne Regularien wäre ganz schlimm“
Teil 1: Interview – Meeresforscher Pedro Martinez Arbizu über ökologische Risiken des Tiefseebergbaus
„Wir müssen mit Fakten arbeiten“
Teil 2: Interview – Meeresbiologin Julia Schnetzer über Klimawandel und Wissensvermittlung
„Entweder flüchten oder sich anpassen“
Teil 3: Interview – Klimaphysiker Thomas Frölicher über ozeanisches Leben im Klimawandel
„Es liegt nicht am Gesetz, Kriminalität zu verhindern“
Teil 1: Interview – Kriminologe Dirk Baier über Gewaltkriminalität und Statistik
„Prüfen, ob das dem Menschen guttut“
Teil 2: Interview – Publizist Tanjev Schultz über ethische Aspekte der Berichterstattung über Kriminalfälle