Das Leben ist ein zotiges Possenspiel. Und mittendrin: das clowneske Individuum, das sich verzweifelt gegen sämtliche vermeintlich schicksalhafte Widrigkeiten zur Wehr zu setzen versucht und doch nicht registriert, welch entscheidenden Beitrag es selber dabei leistet. Da kann der Mensch noch so keilen und treten, die Macht- und Funktionsstrukturen unserer Zivilisation verhalten sich wie Treibsand. Entsprechend ungeschickt und überaus unterhaltsam wirkt die Figur, die wir in unserem Aufbegehren, in unserer verzweifelt verfolgten Sehnsucht nach dem Großen Glück abgeben. Life’s a bitch, die wir – für einen vorgespielten Orgasmus – aus unserer eigenen Tasche bezahlen, wie die Literatur in bisweilen genüsslichem Anschauungsunterricht lehrt:
Man ergötze sich zum Beispiel an den Irrungen und Wirrungen des isländischen Dorfschullehrers Böddi Steingrímsson, der sich nach seiner Heimkehr aus Berlin in die Kleinöde von „Rokland“ (dtv, 479s, € 9,95) in seiner Rolle als ewiger Rebell ach-so-philosophisch eingerichtet hat. Wäre da nicht seine TV-süchtige Mutter, mit der er sich ein Dach teilen muss, der stocksteife Schulleiter, der ihn vor die Tür gesetzt hat, und nicht zuletzt auch noch dessen Tochter, die Böddi zu allem Überfluss geschwängert hat.
Mit geradezu zärtlicher Boshaftigkeit zersetzt Kultautor Hallgrímur Helgason (u.a. „101 Reykjavík“) die Lebensweisheiten seines Protagonisten. / Der amerikanische Wahlberliner Matt Burgess hingegen entfesselt mit die „Die Prinzen von Queens“ (suhrkamp, 391s, € 14,99) eine Kleinganovenfarce, die zumindest in puncto Skurrilität und Rasanz den Vergleich nicht scheuen braucht: Um die mögliche Wut seines Bruders wenigstens ein bisschen zu dämpfen, weil er ihn bei einem Überfall hat sitzen lassen, stellt Alfredo zu dessen Freilassung einen Hundekampf auf die Beine. Dummerweise ohne Hunde, dafür mit einem kleinen Berg Drogen, den er besser nicht geklaut hätte, und einem Kind im Bauch der Ex seines Geschwisterherz’, der sich im Gefängnis ‚weiß-der-Himmel-warum‘ auch noch in Tariq umbenannt hat.
In einer solchen Situation würde man sich vermutlich nichts sehnlicher wünschen, als bei Time Warner Time eine Zeitreise zu buchen. Frei nach dem Motto „Legst du diesen Schalter um, landest du in der Vergangenheit, ziehst du jenen Hebel hoch, in der Zukunft. Du steigst aus und hoffst, dass die Welt sich verändert hat. Oder zumindest du selbst“ besteigen die Menschen in Charles Yus „Handbuch für Zeitreisende“ (rowohlt, 267s, € 13,95) scharenweise die chronogrammatischen Personenfahrzeuge der T-Klasse, um sich via temporalinguistischen Entertainments im Kleinuniversum 31 ihrer Probleme zu entledigen, stattdessen aber den Karren zumeist vollends festfahren. Und dazu zählt auch das Alter Ego des Autors, das als TM-31-Techniker samt seines weiblichen, mit Minderwertigkeitskomplexen kämpfenden Betriebssystems sowie einem nur ontologisch existenten Köter eigentlich dafür zuständig sein sollte, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen. / Leider Gottes oder Gott-sei-Dank musste Patrick Melrose in seinem Protagonistendasein auf derartige Flucht-Behelfsmöglichkeiten vier Bände lang verzichten, um sich endlich von seiner übermächtigen Mutter und Grande Dame der Millionärsdynastie zu befreien. Im fünften und finalen Teil der von britischem Humor triefenden Pentalogie ist es endlich soweit. Eleanor hat das Zeitliche gesegnet, was dem armen drangsalierten Sohnemann plötzlich ganz neue Perspektiven eröffnet. Das Problem ist nur: er selbst. Mit scharfer Feder lässt Edward St. Aubyn das Psychodrama Familie in seinem (Anti-)Helden kulminieren, denn „Zu guter Letzt“ (DuMont, 221s, € 17,99) muss ein jeder für sich entscheiden, inwieweit er als trauriger oder bissiger Clown durchs Leben mäandern will.
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