Der extreme Sommer 2018 wirkt bis weit in den Herbst hinein. Neben den Landwirten stöhnten auch die Kinobetreiber unter der andauernden Hitze, die zu äußerst mageren Ernten und Besucherzahlen geführt hat. In der Natur erleben wir nach dem Rekordsommer nun einen goldenen Herbst, und auch das Kinoprogramm verspricht goldene Momente. Die Hoffnung der Kinomacher, die Verluste des Sommers jetzt aufzuholen, werden von einem quantitativ, aber auch einem qualitativ hochwertigen Angebot genährt. Wieder einmal zeigt sich, dass schwierige Zeiten vielleicht zu besseren, auf jeden Fall aber zu extremeren Filmen führen. Gerade aus Italien, wirtschaftlich geschüttelt und von einem besorgniserregenden Rechtsruck heimgesucht, kommen spannende Filme wie lange nicht: Da war im September unser antikapitalistischer Film des Monats „Glücklich wie Lazzaro“ von Alba Rohrwacher. Im Oktober kam „Dogman“ von Matteo Garrone in die Kinos. Und im September folgt mit „Loro“ das neue Werk von Paolo Sorrentino, eine kunterbunte Satire auf das Italien von Silvio Berlusconi. Und auch im Nachbarland Frankreich, von wo gerne mal seichte Komödien herüberwehen, gibt es subversives Potential: Mit „Ava“ von Léa Mysius wurde im Oktober ein anarchisches Debüt über Teenager der Film des Monats in letzten Heft. Ein Film, der auch politische Akzente setzt.
Das zweite Halbjahr bringt uns viele gute Filme. Es bringt uns auch viele lange Filme. Dabei beschränkt sich die Tendenz nicht auf Genres, und auch nicht auf die Herkunft der Filme, wie man das von Bollywood kennt. Überlänge findet man zurzeit überall: im Autorenfilm, im Blockbuster, im Horrorfilm, im Biopic. Der aktuelle Film des Monats „In My Room“ von Ulrich Köhler ist mit 120 Minuten eher kurz angelegt (erst recht im Vergleich mit dem letzten Werk von seiner Lebensgefährtin Maren Ade – „Toni Erdmann“ kam auf 162 Minuten). Das Freddie-Mercury-Biopic „Bohemian Rhapsody“ kommt auf 134 Minuten. „Loro“ zeigt uns auf knappen 150 Minuten die Dekadenz um Berlusconi. Im Original, das in Italien in zwei Teilen in die Kinos kommt, sieht man den politischen Zirkus 204 Minuten lang mit an. Der „Aufbruch zum Mond“ dauert bei Damien Chapelle 142 Minuten. Lars von Trier lässt seinen Serienkiller in „The House That Jack Built“ 155 Minuten lang wüten. 174 Minuten sehen wir in Philip Grönings Film „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ wie sich ein Geschwisterpaar philosophierend extremisiert. Das sozialistische Musical „A Fábrica de Nada“ kommt auf 177 Minuten. Und Herr Donnersmark, um Superlative nie verlegen, erzählt 188 Minuten lang vom Leben Gerhard Richters. Dass dies ein Zeitphänomen ist, zeigt Luca Guadagninos Remake von „Suspiria“. Das Original von 1977 des Giallo-Königs Dario Argento ist kunstvoller Horrorfilm – erzählt in klassischen 95 Minuten. Guadagnino zelebriert dasselbe Motiv auf 152 Minuten. Es ist schwer, in der Tendenz nicht den Einfluss der nach wie vor boomenden Fernsehserien zu sehen. Aber man muss kein Erzähl-Ökonom sein, um festzustellen, dass es den Kinofilmen nicht immer gut tut. Vielleicht liegt die Kraft des Kinos doch eher bei knackigen 90 Minuten? Es wäre mal wieder einen Versuch wert.
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