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„Nathan“
Foto: Thilo Beu

Kurz hinter Lessing rechts ab

25. Februar 2016

Die Bürger und ihr „Nathan“ in den Bad Godesberger Kammerspielen – Theater am Rhein 03/16

Löwenherz, Kippa, Saladin, Aufklärung, Scharia. IS, Lessing, Nathan, Dschihad, zwei Stunden, keine Pause. Willkommen im Paradies der Religionswissenschaftler, willkommen im Dschungel der Fundamentalisten aller Glaubensrichtungen. Volker Lösch dirigiert in den Bonner Kammerspielen mit „Nathan“ eine multikulturelle (sorry, ihr Wutbürger) Schulklasse durch die Klippen von Weltanschauungen und die alltäglichen Konfrontationen im Botschaftsstadtteil der ehemaligen Bundeshauptstadt, die inzwischen als Salafistenhochburg und IS-Sympathisantenherberge gilt.

Der Lehrer (Glenn Goltz) kommt denn auch aus der Mitte des Publikums, das auf aufregende Weise an der Inszenierung beteiligt wurde. Weit vor der Premiere sind im Theater Fragebögen zu „Nathan der Weise“ verteilt worden. Fünf „harmlose“ Fragen zum „Kampf der Kulturen“, die auch willig (ich habe daneben gesessen) beantwortet wurden. Gehört der Islam zu Bonn? Haben Sie Sorgen und Ängste? Der Lehrer stellt diese Fragen dem Schüler-Chor auf der Bühne auch, er argumentiert mit Lessing, mit der Aufklärung, mit gelben Reclam-Heftchen (wohin gehören die eigentlich?), er appelliert, er erklärt, es mischen sich Aberglaube und Halbweisheiten und doch, er erhält immer mehr Gegenwind – und der eigentlich unreligiöse Schülerpulk geht auf direkte Konfrontation, als die Reclamhefte auf die Tische kommen, fliegen sie flugs zur Tafel zurück. Doch die sozialpädagogische historische Reclam-Front wehrt sich, Explosion, der Klassenraum wird in der Mitte gespalten, ein reclamgelber Keil bohrt sich hinein, die Mauern brechen, die Decke stürzt. Wo bleiben denn die Tempelritter? Es treten auf, G.I. Joe, der Mönch und die Madonna und schon geht die Mekka-Pop-Disco ab.

Das pseudo-tolerante Christengehabe des Lehrers wird entlarvt. Lessing-Zitate führen zu Massakern, Juden-Witzen, arabischer Homophobie, aber auch zu Dschinns und der unausweichlichen Ringparabel. Die „Schüler“ sind ein großartiger Chor und würdige Vertreter ihrer Generation und Überzeugung, und so formiert man sich endlich zu einer Art Sketch von „Nathan der Weise“ mit einer hypersexuellen Recha (Julia Keiling), einem geldgeilen Saladin (Daniel Breitfelder, auch als Patriarch) und einer machthungrigen Sittah (Birte Schrein), die alle irgendwie gegen den Prototypen eines weisen Nathans (Bernd Braun) ankämpfen. Volker Lösch hintreibt so auch das Lessing-Bild des ebenfalls weisen Muslim, die Feldforschung des Teams scheint in Bonn einfach kein klares Bild ergeben zu haben (glücklicherweise), und so bleibt ein „Nathan ohne Fremdtext“ als die letzte Utopie in einem Stück voller Schlagschatten-Szenen, das mit den finalen schnöden Regieanweisungen für Friede, Freude, Eierkuchen endete. Nicht ganz. Die Auswertung der fünf „harmlosen“ Fragen von den Fragebögen (ein ganzer Packen) fehlt noch. Harmlos scheinen die Gedanken des überwiegenden Teils des Bonner Publikums nicht zu sein. Hier steckt viel christlicher Fundamentalismus und gleichzeitig enorme Angst vor dem Fremden.

„Nathan“ | R: Volker Lösch | 28.2. 18 Uhr, 3., 5., 10., 17.3. je 19.30 Uhr | Kammerspiele Bonn | 0228 77 80 22

PETER ORTMANN

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