Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ ist ein Buch zwischen allen Stühlen: Autobiografie, soziologische und politische Analyse, schwule Selbstverortung, Bekenntnis – alles verpackt in das christliche Motiv von der Rückkehr des verlorenen Sohnes. Jede Dramatisierung muss sich an diesem rationalisierend-bekennenden Zwitter reiben. Regisseur Thomas Jonigk löst die strenge, nach Themen geordnete Kapitelstruktur auf und konzentriert sich zunächst auf die Familienauseinandersetzungen und Eribons „Herkunftsscham“, also dem Zwiespalt zwischen schwul-intellektueller Pariser Elite und proletarischer Herkunft. Nicki von Tempelhoff und Sabine Orléans geben ein handfest brüllendes Elternpaar, er ein alkoholisiertes Wrack, sie ein aufstiegswilliges Muttertier. Jörg Ratjen (mit Nicolas Lehni und Justus Maier als Alter Egos) zeichnet dagegen einen nervösen, schüchternen, schwulen Intellektuellen.
Die distanzierende Analyse samt Selbstentblößung des Buches wird dabei einer (vermeintlichen) emotionalen „Authentizität“ geopfert. Ironisch kommentierende Blicke auf Eribons Selbstbezichtigungen gibt es allerdings auch. Von gebrochener Komik die zu lange Fabrikszene, bei der die Arbeiter Eribons Buch am Fließband verarbeiten – die ökonomische Ausbeutung kommt auch unmittelbar intellektueller Buchproduktion zugute. Willkürlich dagegen wirkt die Slow-Motion-Familienszene am Tisch, die den politischen Schwenk der kommunistischen Arbeiter zum Front National illustriert. Am Ende steht weniger der Treibsand politisch-individueller Identitätsbildung im Zentrum, als die subjektiv vollzogene Ab- und die gesellschaftlich oktroyierte Ausgrenzungserfahrung.
„Rückkehr nach Reims“ | R: Thomas Jonigk | 1., 2., 5., 10., 16.2. 20 Uhr,
17.2. 17 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 28400
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