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Bachtyar Ali spricht im Stadtgarten
Foto: Mario Müller

Hat Flucht auch etwas Positives?

15. September 2016

Der Schriftsteller Bachtyar Ali spricht im Rahmen der Pluriversale – Spezial 09/16

Für die Pluriversale ist der Stadtgarten an diesem Abend eine Premiere als Veranstaltungsort. Der Konzertsaal wird auch als solcher genutzt: Nach dem Vortrag des in Köln lebenden kurdischen Schriftstellers Bachtyar Ali und seinem Gespräch mit dem Kollegen Stefan Weidner steht die Mazzaj Rap Band auf der Bühne. Die syrischen Musiker verarbeiten ihre Fluchterfahrungen in ihren Songs.

Auch Bachtyar Alis philosophische Gedanken zur Flucht sind von seinen eigenen Fluchterfahrungen geprägt. In seinen lange Zeit gereiften Überlegungen erkennt er in der Flucht auch eine versteckte Bedeutung. Als historischen Hintergrund seiner Ausführungen ruft er in Erinnerung, dass die Modernisierung Europas Anfang des 20. Jahrhunderts immer von den Ideen der Aufklärung geprägt war. Nicht so allerdings im Orient, wo Ali in der Modernisierung der Staaten vor allem viel Ideologie entdeckte, aber wenig „kritische Vernunft“ – was letztlich zu Totalitarismus geführt habe.

Reaktion auf die Globalisierung

Die im Orient folgenden Kriege hätten einen Verlust von Schutzorten nach sich gezogen. Diese Heimatlosigkeit ist zentral für Alis Gedanken. Letztlich solle jede Flucht diese Heimatlosigkeit rückgängig machen. Die Flucht stelle dabei den Versuch einer Neudefinition der Welt und des Raums dar – im Grunde sei sie eine ständige Überschreitung der Grenze. Die Flucht der Menschen sieht er gewissermaßen als Reaktion auf die Globalisierung, durch die Waren und Kapital befreit worden seien, aber eben nicht die Menschen.

Während die Flucht eine Heimatlosigkeit überwinden solle, also durchaus ein Ziel habe, sei das Paradoxe, dass ein fester Bestandteil der Flucht die Ziellosigkeit sei. Der Flüchtling suche einen immer verlorenen, sicheren Ort – doch: „Für ein Schiff ohne Hafen ist kein Wind der richtige.“

Besondere Perspektive

Diese Ziellosigkeit der Flüchtlinge unterscheide sie von den „normalen“ Zugehörigen unserer Gesellschaft, in der Ziele immens wichtig seien, sei es der Abschluss der Ausbildung, das Gründen einer Familie oder der Verdienst eines geregelten Einkommens. Diese Differenz nimmt Ali zum Anlass, diese Ziele zu überdenken – und gibt damit dem Fluchterleben eine positive Bedeutung. So falle es ihm als Flüchtling auf, wie wichtig hier der Lebenslauf sei, weil er nach zehn Jahren Flucht nicht auf die Frage: „Was hast du gemacht?“, antworten könne. Auch das Privileg der freien Bewegungsmöglichkeiten etwa der Europäer erkenne der Flüchtling sofort – während es sich so mancher, der damit ausgestattet ist, erst wieder vor Augen führen muss.

Der Kurde Ali ist in den 90er Jahren vor dem Regime Saddam Husseins geflohen und lebt seitdem in Deutschland. Im kurdischsprachigen Irak zu den wichtigsten Autoren zählend, wurde er hierzulande erst vor wenigen Monaten als Schriftsteller entdeckt: Sein Roman „Der letzte Granatapfel“ aus dem Jahr 2003 wurde in deutscher Übersetzung veröffentlicht.

Ideologie der „Heimat“

Zu den begeisterten Lesern des Buchs gehörte auch der Schriftsteller und Journalist Stefan Weidner, der das Gespräch mit Ali führte, das dessen Botschaft noch deutlicher werden ließ. Das Ziel sei die Überwindung der weit verbreiteten Ideologie der „Heimat“, die aus dem Nationalismus entstanden sei. Als konkrete Maßnahme für die Überwindung des Nationalismus sieht Ali zum Beispiel eine gegen-nationale Bildung an, also etwa die Lehre von der Weltgeschichte. Als Ergebnis solle dann die Heimatlosigkeit in unserer Gesellschaft akzeptiert werden. Schließlich, so Ali, habe sie eben auch etwas Positives, so rege sie zum Beispiel die Kreativität an.

Die Gedanken Alis sind wichtig, weil sie so viel weiter führen als die meisten Anmerkungen zur aktuellen Situation. Weil sie dazu auffordern, über die Ursachen und die Auswirkungen von Fluchtbewegungen genauer nachzudenken. Und weil der Schriftsteller Bachtyar Ali es schafft, dabei sogar Positives zu erkennen, wo man gar nichts Positives mehr vermutet hat.

Mario Müller

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