Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit daraus resultierender Schuld und Scham ist im öffentlichen Raum inzwischen stark präsent, sind sich Psychotherapeut Peter Pogany-Wnendt, Autorin Alexandra Senfft und Historiker Oliver von Wrochem einig. In den Familien wurde jedoch bis vor kurzem über die Nazi-Vergangenheit der Eltern bzw. Großeltern geschwiegen. Daher veranstaltete PAKH, Arbeitskreis für Intergenerationelle Folgen des Holocaust, am Mittwoch im EL-DE-Haus eine Diskussion über die Nachwirkungen von NS-Täterschaft auf Kinder- und Enkelgeneration.
Die Journalistin Alexandra Senfft hatte 2007 das heiße Eisen in ihrem Buch „Schweigen tut weh“ angepackt: Ihr Großvater Hanns Ludin war NS-Gesandter in der Slowakei und verantwortlich für die Deportation dortiger Juden. Das Öffentlichmachen ihrer Familienhistorie führt bis heute zu Streit in der Verwandtschaft: „We agree to disagree.“ Gleichzeitig erhielt sie den Deutschen Biographie-Preis. Nun hat Senfft in ihrem neuen Buch „Der lange Schatten der Täter: Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte“ Gespräche mit Menschen aufgezeichnet, die die Vergangenheit ihrer Vorfahren recherchieren und sich mit deren Taten auseinandersetzen. Gegenüber choices erzählt sie: „Die Protagonisten habe ich bei meiner Arbeit kennengelernt. Einige entwickelten Abwehr, so dass sie ausschieden. Die meisten waren jedoch bereit, sich dem Thema zu stellen.“
Peter Pogany-Wnendt, PAKH-Leiter und selbst Kind geflohener ungarischer Juden, beschäftigt sich als Psychotherapeut mit den transgenerationellen Folgen der Shoa. Er konstatiert, dass Opfer schwiegen, um ihre Kinder zu schützen, während Täter schwiegen, um sich ihrer Schuld nicht zu stellen. Das Schweigen laste jedoch schwer auf den Nachkommen. Gewalt und Destruktivität wirken unbewusst fort. „Jetzt setzen sich Nachfahren damit auseinander“, so Pogany-Wnendt. „Das war vor wenigen Jahren noch undenkbar.“
Historiker Oliver von Wrochem leitet die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg, in deren Seminaren Teilnehmer sich mit ihrer Familiengeschichte befassen. Er stellt fest: „Die kritische Annäherung wird nicht von allen geteilt. Manche setzen die NS-Ideologie fort.“ choices erklärt er: „Die Symbolik wird tradiert. Manche hängen Hakenkreuze an den Weihnachtsbaum oder bewahren den SS-Degen ihres Großvaters auf.“ Er hat das Buch „Nationalsozialistische Täterschaften: Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie“ herausgegeben, das sowohl den aktuellen Stand der Forschung als auch Interviews mit Nazi-Enkeln enthält. Von Wrochem kenne keinen Fall, in dem ein Täter Bedauern geäußert habe. Das Schweigen der Nachkommen erklärt er so: „Sie haben Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung, beruflichen Nachteilen oder dem Kontakt mit Opfernachkommen. Diese rechnen es jedoch hoch an, wenn jemand ehrlich und transparent mit seiner Geschichte umgeht.“
Nach den Lesungen fand eine Diskussion unter Einbeziehung des Publikums statt. Hierbei wurde der Unterschied zwischen Schuld und Scham thematisiert: Obwohl Täter-Nachkommen de facto schuldlos sind, empfinden viele Scham über die Verbrechen. Ein Redebeitrag empfahl, die Scham anzunehmen und in Wiedergutmachung umzuwandeln. Auch der Bezug zu heutigem Rassismus und Rechtsradikalismus wurde hergestellt. Von Wrochem verwies darauf, dass es NS-Opfergruppen wie Asoziale, Kriminelle oder Euthanasietote gäbe, über die bis heute geschwiegen wird. Senfft erklärte abschließend: „Die Kunst besteht darin, zwischen der Schuld von Vorfahren und der Liebe zu ihnen zu unterscheiden, beides auszuhalten und zu integrieren.“
Info:
Alexandra Senfft: Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte | Piper
Oliver von Wrochem (Hg.): Nationalsozialistische Täterschaften: Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie (Reihe Neuengammer Kolloquien) | Metropol-Verlag
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Gedenken ist kein rückwärtsgerichtetes Tun“
Seit rund einem Jahr leitet Henning Borggräfe das NS-Dok – Interview 10/23
Symbole für die Ewigkeit?
„Haut, Stein“ im NS DOK – Kunst 10/22
Gott und Nationalsozialismus
Theo Beckers Bilder im NS DOK – Kunst 07/22
Die letzte Bastion der Freiheit: Humor
„Philibert & Fifi“ im EL-DE Haus – Interview 10/21
Humor gegen Unmenschlichkeit
„Philibert und Fifi“ im EL-DE Haus – Kunst 09/21
Nicht politisch
„1934 – Stimmen“ von Futur3 fragt, wie Menschen sich radikalisieren – Auftritt 10/20
1945 polyphon
„Kriegsenden in Köln“ im NS-DOK – Spezial 03/20
Belgischer Widerstand
Filmreihe „Gerettet – auf Zeit“ im Filmforum – Kino 01/20
„Eine Gefahr für die Demokratie“
Christian Fuchs über das Netzwerk der Neuen Rechten – Interview 10/19
Spektrum der Erlebnisse
Ausstellung über Kölner Kriegserfahrungen im NS-DOK – Spezial 09/19
Mord in roten Roben
Ausstellung zum Volksgerichtshof des NS-Dok – Spezial 03/19
Arzt für Menschen
„Hans“ im Orangerie-Theater – Theater 01/19
Kindheit zwischen Buchseiten
„Die kleinen Bücher der kleinen Brontës“ von Sara O’Leary und Briony May Smith – Vorlesung 05/24
Vom Arbeiterkind zum Autor
Martin Becker liest im Literaturhaus aus „Die Arbeiter“ – Lesung 04/24
Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24
Female (Comic-)Future
Comics mit widerspenstigen Frauenfiguren – ComicKultur 04/24
Erwachsen werden
„Paare: Eine Liebesgeschichte“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24
Wortspielspaß und Sprachsensibilität
Rebecca Guggers und Simon Röthlisbergers „Der Wortschatz“ – Vorlesung 03/24
Lebensfreunde wiederfinden
„Ich mach dich froh!“ von Corrinne Averiss und Isabelle Follath – Vorlesung 03/24
Das alles ist uns ganz nah
„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert – Textwelten 03/24
Spurensuche
Comics zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Spektakel – ComicKultur 03/24
Wut ist gut
„Warum ich Feministin bin“ von Chimamanda Ngozi Adichie – Vorlesung 03/24
Unschuldig bis zum Beweis der Schuld
„Der war’s“ von Juli Zeh und Elisa Hoven – Vorlesung 02/24
Das Drama der Frau um die 50
„So wie du mich willst“ von Camille Laurens – Textwelten 02/24
Gertrude, Celeste und all die anderen
Progressive Frauen in Comics – ComicKultur 02/24