Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
29 30 1 2 3 4 5
6 7 8 9 10 11 12

12.559 Beiträge zu
3.788 Filmen im Forum

Christian Knibbe (l.) und Micha Heimbucher
Foto: Benjamin Trilling

Gedämpfte Mieten, keine Aktionäre

27. Juni 2023

Der Gemeinnützige Wohnungsverein zu Bochum (GWV) – Teil 2: Lokale Initiativen

Im März 1902 versammelten sich Beamte der Eisenbahn und der Postverwaltung im damaligen Viktoria-Hotel zu einer Gründungsversammlung. Der Anlass: Der Mangel an Wohnraum. Das Ergebnis: die Gründung des „Beamten-Wohnungsverein zu Bochum“, um den Mitgliedern „gesunde und billige Wohnungen“ zur Verfügung zu stellen. Über 120 Jahre später ist der Beamtenstatus längst keine Voraussetzung mehr, um beim heutigen Wohnungsverein zu Bochum (GWV) einen Mietvertrag zu unterzeichnen. Mittlerweile hat die größte Genossenschaft in der Ruhrgebietsstadt knapp 4.400 Mitglieder und verwaltet über 3.000 Haushalte.

Wohnen in Krisenzeiten

Geblieben ist nicht nur das Ziel der GWV, ihren Mieter:innen vier Wände zu fairen Preisen bereitzustellen. Gerade die ökonomischen Parallelen zur Gründungs- und Konsolidierungsphase der Genossenschaft springen ins Auge. So umfasste ihr Bestand 1914 bereits 424 Wohnungen, die in nur 12 Jahren gebaut wurden – trotz Weltkrieg, Inflation oder steigenden Zinsen. Ähnliche Krisensymptome sind auch heute allgegenwärtig. Deswegen gibt es für viele Mieter:innen gute Gründe, sich einer Genossenschaft anzuschließen. „Der größte Vorteil ist die Unkündbarkeit der Wohnung“, sagt Micha Heimbucher, technischer Vorstand der GWV, der zugleich die geringeren Kosten anführt: „Wir sprechen hier von gedämpften Mieten im Vergleich zum Markt.“ 

Genossenschaften verzichten darauf, mit Investoren zu handeln. „Wir müssen keinen Aktionären Geld ausschütten, deswegen können wir günstiger sein“, betont Christian Knibbe, kaufmännischer Vorstand. „Hundert Prozent der Mieten kommen der Genossenschaft zugute.“ Die Einnahmen fließen in die Modernisierung der Infrastruktur oder in die nachhaltige, soziale Entwicklung von Quartieren. Zu diesem „ganzheitlichen Ansatz“ gehöre die Bereitstellung von Lastenrädern oder Carsharing, aber auch der Bau von Spielplätzen. „Es hat bei uns zugleich einen Stadtentwicklungscharakter“ meint Knibbe. „Wir investieren daher nicht nur in Steine, sondern auch in Menschen.“

Ganzheitlicher Ansatz

Neben diesem Fokus auf das Zusammenleben gehören demokratische sowie partizipatorische Elemente zu den Basics. So wählen die GWV-Mitglieder Verteter:innen, die einmal im Jahr in einem „Parlament der Genossenschaft“ zusammenkommen, um u.a. einen Aufsichtsrat zu wählen. Zudem fließen Mitgliederbefragungen in die Planungen ein. „Die Mitglieder haben eine Stimme, deswegen ist eine Genossenschaft demokratisch aufgestellt“, so Knibbe.

Doch findet sich im genossenschaftlichen Prinzip ein Alternativmodell zum aufgeheizten Wohnungsmarkt? In dieser Hinsicht äußert sich der GWV-Vorstand skeptisch. „Mit unseren Bestand ist unser Einfluss begrenzt, um daraus ein politisches Leitbild zu schaffen. Es ist also nicht realistisch und gut, das als einziges Modell zu sehen“, erklärt Heimbucher. Schließlich ist auch eine Genossenschaft den gegenwärtigen Marktmechanismen (steigenden Zinsen oder Baupreisen) ausgesetzt. Hinzukämen höhere ökologische Standards sowie Anforderungen an Lebens- und Wohnraum. Das erfordert einerseits mehr Investitionen, andererseits gehe es darum, weiterhin die Mieten zu dämpfen: „Dieser Spagat wird immer schwieriger“, so Heimbucher, „diese Realität erwischt uns eiskalt“. Es ist nicht die erste Krise, mit der die Genossenschaft in ihrer 120-jährigen Geschichte umzugehen lernen musste.


GELD ODER LEBEN - Aktiv im Thema

finanzwende.de | Der in Berlin ansässige Verein Bürgerbewegung Finanzwende will als „unabhängiges und überparteiliches Gegengewicht zur Finanzlobby“ dafür sorgen, „dass die Finanzmärkte wieder den Menschen dienen“.
facing-finance.org | Der in Berlin ansässige Verein Facing Finance will „deutsche und europäische Finanzdienstleister […] sensibilisieren, bei Investitionsentscheidungen völkerrechtliche Verträge, soziale Normen und Umweltstandards umfassender zu berücksichtigen“.
attac.de | Auftritt des deutschen Ablegers der 1998 in Frankreich gegründeten NGO Attac, die Armut, Ungleichheit und Ausbeutung als Folgen einer konzern- und finanzmarktfreundlichen Globalisierung kritisiert.

Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de

Benjamin Trilling

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Planet der Affen: New Kingdom

Lesen Sie dazu auch:

Gesetz und Zufall
Intro – Geld oder leben

Finanzkrise nonstop
Wieder retten öffentliche Gelder Banken aus der selbstverschuldeten Krise – Teil 1: Leitartikel

„Muss ein Land für das Kapital attraktiv sein?“
Wirtschafts-Podcaster Ole Nymoen über Krisen und Regulierung des Finanzsystems – Teil 1: Interview

Geld macht Politik
Das Finanzwissenschaftliche Forschungsinstitut der Universität zu Köln (FiFo) – Teil 1: Lokale Initiativen

Kein Recht auf Wohnen
Wie ein Grundbedürfnis unbezahlbar wird – Teil 2: Leitartikel

„Die kapitalistische Marktlogik verlernen“
Kartoffelkombinat-Mitgründer Simon Scholl über Solidarische Landwirtschaft – Teil 2: Interview

Spätrömische Dekadenz
Falsche Versprechen zu Lohn und Leistung – Teil 3: Leitartikel

„Manche können sich abstrampeln, soviel sie wollen“
Soziologin Dorothee Spannagel über Ursachen und Bekämpfung von Armut – Teil 3: Interview

Menschen bleiben arm
Forschung über Armut und Armutshilfe an der Uni Wuppertal – Teil 3: Lokale Initiativen

Weder Miete noch Eigentum
Genossenschaftliches Wohnen – Europa-Vorbild: Schweden

Held der Arbeit
Wer sehr hart arbeitet, wird reich! – Glosse

Lokale Initiativen

Hier erscheint die Aufforderung!