Zuerst mal eine Runde Mitleid: Die Millionäre in Ostdeutschland sind im Schnitt ärmer als die Millionäre in Westdeutschland. Tja, Geld ist nunmal ungleich verteilt – derlei Schieflage macht immerhin auch bei Spitzenverdienern keinen Halt. Nur nützt das kaum dem Rest der Bevölkerung, also den gut 82 Millionen Menschen in Deutschland, die nicht dazu gehören zum Kreis der 1,63 Millionen Sechsernullen dieses (noch) reichen Landes. Aber, Gott sei Dank: Leistung lohnt sich ja bekanntlich! Beziehungsweise nicht, sah der damalige FDP-Chef „Spaß-Guido“ Westerwelle doch bereits im Jahr 2010 die „spätrömische Dekadenz“ wieder auferstehen rund um jene, die nichts leisten und trotzdem vom Staat sozial aufgefangen werden. Natürlich ist spätrömische Dekadenz eher zwischen Porsche, Sylt und Privatjet verortet und in dem süffisanten Vergnügen daran, Arbeitslose, Geringverdiener und andere Klassenkamerad:innen gegeneinander auszuspielen. Das bürgerlich-konservative Klassenbild, das die Leistungsempfänger:innen am unteren Rand der Gesellschaft als Schmarotzer brandmarkt, sickert bis heute mediengestützt in die Grundwahrnehmung, zuletzt gespiegelt bei der Verabschiedung des Bürgergelds.
Verdienen und bekommen ist nicht dasselbe
Jedenfalls: Wenn Leistung belohnt sein soll, dann muss die Politik dafür Grundlagen schaffen. Wie? Indem sie sich weitgehend raushält aus dem freien Markt. Klar. Die große Selbstreguliere. Bloß: Wenn es tatsächlich nach dem Markt ginge, also nach Leistung, Angebot und Nachfrage, dann müssten sich beispielsweise Pflegekräfte längst dumm und dusselig verdienen. Tun sie aber nicht. Im Gegenteil. Stattdessen ziehen Energie- und Lebensmittelkosten an, und Wohnungsmieten gehen durch die Decke. Ein Hoch auf den freien Markt.
Das Resümee neoliberalen Werkelns: Marodes Klima, zögerliche Politik, Kostenexplosion. International verliert unser einstiges Vorreiterland im Festhalten am Status quo den Anschluss. Innerlands schürt diezunehmend klaffende Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Leistung und Entlohnung, die Unzufriedenheit. Der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit, von den Adressierten reflexartig zur Neiddebatte verklärt, verstummt nicht: Er richtet sich gegen irrsinnige Managergehälter, gegen Verantwortungsverweigerung von Verantwortungsträgern in Politik und Wirtschaft, die im Aussitzen oder in generösen Bewährungsstrafen mündet oder gegen die absurden Anforderungen, die Geringverdiener:innen in ihren Jobs aufzehren.
Revolution?
Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das Volk zur Revolte antritt. Oder kommt da nichts mehr? Beschränkt man sich hierzulande bloß noch auf den gewerkschaftlich organisierten Sparten-Stillstand? Sind Sozialarbeiter zu sozial, um für den Protest die Arbeit ruhen zu lassen? Protestieren die Abgehängten nur noch an der Wahlurne und verschaffen dabei gruseligen Abgründen blühende Landschaften? Oder richten die Verlierer ihren Groll lieber gegen die, die gegen eine sträflich vernachlässigte Klimapolitik rebellieren und – Skandal! – Straßen blockieren?
Merke: Wenn es dem Angestellten gut geht, geht es der Firma gut. Das gilt auch für das ganze Land. Bizarres Lohngefälle, Klientelpolitik und Gießkanne schaden Gemeinwohl und Demokratie. Wie soll man der Ungerechtigkeit begegnen? Mit Gerechtigkeit? Schwierig, denn Gerechtigkeit definieren alle anders. Mit mehr Sozialstaat? Das wäre ein Anfang. Vielleicht täte es für’s Erste aber einfach ein wenig Anstand da oben.
GELD ODER LEBEN - Aktiv im Thema
finanzwende.de | Der in Berlin ansässige Verein Bürgerbewegung Finanzwende will als „unabhängiges und überparteiliches Gegengewicht zur Finanzlobby“ dafür sorgen, „dass die Finanzmärkte wieder den Menschen dienen“.
facing-finance.org | Der in Berlin ansässige Verein Facing Finance will „deutsche und europäische Finanzdienstleister […] sensibilisieren, bei Investitionsentscheidungen völkerrechtliche Verträge, soziale Normen und Umweltstandards umfassender zu berücksichtigen“.
attac.de | Auftritt des deutschen Ablegers der 1998 in Frankreich gegründeten NGO Attac, die Armut, Ungleichheit und Ausbeutung als Folgen einer konzern- und finanzmarktfreundlichen Globalisierung kritisiert.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Gesetz und Zufall
Intro – Geld oder leben
Finanzkrise nonstop
Wieder retten öffentliche Gelder Banken aus der selbstverschuldeten Krise – Teil 1: Leitartikel
„Muss ein Land für das Kapital attraktiv sein?“
Wirtschafts-Podcaster Ole Nymoen über Krisen und Regulierung des Finanzsystems – Teil 1: Interview
Geld macht Politik
Das Finanzwissenschaftliche Forschungsinstitut der Universität zu Köln (FiFo) – Teil 1: Lokale Initiativen
Kein Recht auf Wohnen
Wie ein Grundbedürfnis unbezahlbar wird – Teil 2: Leitartikel
„Die kapitalistische Marktlogik verlernen“
Kartoffelkombinat-Mitgründer Simon Scholl über Solidarische Landwirtschaft – Teil 2: Interview
Gedämpfte Mieten, keine Aktionäre
Der Gemeinnützige Wohnungsverein zu Bochum (GWV) – Teil 2: Lokale Initiativen
„Manche können sich abstrampeln, soviel sie wollen“
Soziologin Dorothee Spannagel über Ursachen und Bekämpfung von Armut – Teil 3: Interview
Menschen bleiben arm
Forschung über Armut und Armutshilfe an der Uni Wuppertal – Teil 3: Lokale Initiativen
Weder Miete noch Eigentum
Genossenschaftliches Wohnen – Europa-Vorbild: Schweden
Held der Arbeit
Wer sehr hart arbeitet, wird reich! – Glosse
Aus Alt mach Neu
Teil 1: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 2: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Glücklich erinnert
Teil 3: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Es sind bloß Spiele
Teil 1: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 1: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Der andere Grusel
Teil 2: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime