Tom Tykwer hat nach neunjähriger Abstinenz endlich wieder einen Film fürs Kino gemacht. Mit „Das Licht“ (Cinedom, Cinenova, Odeon, UCI), der die diesjährige Berlinale eröffnete, wandelt er auf den medialen Schnittstellen zwischen Welt und Vorstellung, zwischen Komödie und Tragik, zwischen Karikatur und Ernst. Eine dysfunktionale Berliner „Bobo“-Familie steht im Zentrum, ihre Altbauwohnung ist nur Durchgangsstation der rastlosen Familienmitglieder. Während Mutter Milena, facettenreich von Nicolette Krebitz gespielt, in einer Entwicklungshilfe-NGO in Nairobi der Vorstellung von einer gerechteren Welt nachgeht, greenwasht Vater Tim große Unternehmen durch Gewissenskampagnen. Lars Eidinger spielt ihn mit ganzem Körpereinsatz; kaum kommt er nach Hause, wirft er seine Kleider ab und wird zum nackten Menschen, der alles gegeben hat. Die 17-jährigen Zwillinge repräsentieren die Gen Z. Frieda ist Klimaaktivistin und vergisst mit synthetischen Drogen in hedonistischen Clubnächten die Realität, ihr Bruder Jon verschließt sich in seinem Zimmer und surft mittels VR-Games auf virtuellen Fluchtlinien aus der Wirklichkeit hinaus. Dann ist da noch der kleine Dio aus einer Affäre der Mutter mit einem Mann aus Nairobi – der von außen auf die Familie blickende „Bastard“ der Bürgerschicht. Titelgebend ist ein Stroboskoplicht, das mittels neuronaler Stimulation in den Gehirnregionen spirituelle Séancen real werden lässt. Die Lichthüterin ist Farrah (Tala Al-Deen), eine geflüchtete Syrerin, die bei der Familie als Hausmädchen anheuert – und durch aufmerksames Zuhören therapeutische Bewegung in Gang bringt. Keine Frage, Tom Tykwer fährt hier einen Themenkomplex auf, der wie die dysfunktionale Familie tatsächlich auseinander zu driften droht – würde er das Ganze nicht filmisch wieder einfangen und zu einem großartigen Spiel von sich widerstrebenden Kräften machen. Mit Parallelmontagen und schnellen Schnitten wird hier der Zentrifugalkraft entgegengearbeitet, vor allem aber bringt ein in jeder Szene niederprasselnder, sintflutartiger Regen die schicksalshafte Verbundenheit der dissoziierten Figuren herein – wie in Robert Altmans „Short Cuts“. Bildprägend sind die triefnassen Ölponchos, die als Running Gag in den Innenräumen abgeworfen werden. Tom Tykwer erlaubt sich selbst einen wilden und gefährlichen Stil und zeigt als Filmemacher großen Mut, wenn er seinen Film streckenweise sogar als Anime und grelles Musical inszeniert, bei dem nicht zuletzt Queens „Bohemian Rhapsody“ das Leitmotiv vorgibt. „Das Licht“ ist ein großer kreativer und narrativer Befreiungsschlag nach viel Erzählkonvention in seinen letzten Kinofilmen. Tykwer kehrt zur inszenatorischen Lust seiner Anfänge zurück. Die Formenbefreiung ist allemal ein Glücksfall fürs deutsche Kino.
Niki de Saint Phalle (Charlotte Le Bon) zieht Anfang der 1950er Jahre aus den USA nach Paris, wo sie als Künstlerin erste Erfolge feiern kann. Aufgrund ihrer Angststörungen kommt sie in Behandlung, bei der nach und nach der unverarbeitete Missbrauch ihres Vaters ans Tageslicht kommt. Céline Sallette beschränkt sich in ihrem Biopic „Niki de Saint Phalle“ (Cinenova, Filmpalette, Odeon, Rex, Weisshaus, auch in OmU) auf die ersten zehn Jahre von Saint Phalles künstlerischer Entwicklung, bis diese ihre eigentliche Berufung findet. Dabei vermeidet es die Regisseurin konsequent, die Arbeiten der Künstlerin im Bild zu zeigen, man sieht immer nur den Blick anderer auf sie. Denn ihren Schwerpunkt legt Sallette auf die psychischen Probleme ihrer Protagonistin. Ein ungewöhnlicher, filmisch überzeugender Blick hinter die Kulissen.
Außerdem neu in den Kinos: das Tänzerinnendrama „The Last Showgirl“ (Cinedom, Rex, UCI, OmU im Metropolis) von Gia Coppola, das künstlerische Erweckungsdrama „Die Akademie“ von Camilla Guttner, Disneys Musicaladaption „Schneewittchen“ (Cinedom, Cineplex, Residenz, Rex, UCI) von Marc Webb, der Mafiathriller „The Alto Knights“ von Barry Levinson und der Actioner „Mr. No Pain“ (Cinedom, Cineplex, UCI) von Dan Berk, Robert Olsen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Es bleibt in der Familie
Die Filmstarts der Woche
Das Leben in seinen Facetten
Wolfgang Tillmans in Remscheid – Kunst in NRW 09/25
Eine sympathische Bruderkomödie
„Ganzer halber Bruder“ im Cinedom – Foyer 09/25
Morpheus Erbarmen
Sebastian Fritzsch in der Temporary Gallery – Kunst 09/25
Schreib dich frei!
„Botin“ in der Alten Versteigerungshalle auf dem Großmarkt – Theater am Rhein 09/25
Die Poesie der Sehnsucht
Young Rebel Set im Gebäude 9 – Musik 09/25
Keine Angst vor Gewittern
„Donnerfee und Blitzfee“ von Han Kang – Vorlesung 09/25
Verantwortlichkeit!
Das Jerusalem Quartet in Köln und Bonn – Klassik am Rhein 09/25
„Die Drogenszene wird sich nicht auflösen“
Jane van Well vom Sozialdienst Katholischer Männer über die Debatte um die offene Drogenszene vor der Kölner Kommunalwahl – Gleich Nebenan 09/25
Wo Grenzen verschwinden und Geister sprechen
Das Afrika Film Festival Köln 2025 – Festival 09/25
Aus den Regionen
Teil 1: Lokale Initiativen – Das WDR-Landesstudio Köln
„Es ist vertraut, aber dennoch spannend“
Schauspielerin Barbara Auer über „Miroirs No. 3“ – Roter Teppich 09/25
Der Vogelschiss der Stammesgeschichte
Wenn Menschenrechte gleich Lügenpresse sind – Glosse
Vater des Ethiojazz
Mulatu Astatke im Konzerthaus Dortmund – Improvisierte Musik in NRW 09/25
Zusammenprall der Extreme
„Der Goldene Drache“ von Peter Eötvös am Theater Hagen – Oper in NRW 09/25
„Die Sender sind immer politisch beeinflusst“
Teil 1: Interview – Medienforscher Christoph Classen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Nicht alles glauben!
Wahlkampf NRW: Kampagne der Landesanstalt für Medien NRW – Spezial 09/25
Nicht mit Rechten reden
Der „cordon sanitaire médiatique“ gibt rechten Parteien keine Bühne – Europa-Vorbild Wallonien
Roman eines Nachgeborenen
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić – Literatur 09/25
Wissen in Bewegung
Das Sachbuch „Die Philosophie des Tanzens“ – Tanz in NRW 09/25
Süß und bitter ist das Erwachsenwerden
„Fliegender Wechsel“ von Barbara Trapido – Textwelten 09/25
Ohne Grenzen
74. Ausgabe der Konzertreihe Soundtrips NRW – Musik 09/25
„Was kann eine neue Männlichkeit sein?“
Nicola Schubert über ihr Stück „To #allmen“ an Groß St. Martin – Premiere 09/25
Teuer errungen
Teil 1: Leitartikel – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss bleiben – und besser werden
Weinende Wände
Das Filmtheater als Begegnungs- und Spielstätte – Vorspann 09/25