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Heute mal R-rated: Hartmut Ernst
Foto: Presse

Dirty Language

25. Februar 2016

Sexuell anzügliches Vokabular auf der Leinwand – Vorspann 03/16

Wenn es um die Alterseinstufung von Filmen geht, gibt es in den USA die sogenannte „One-Fuck-Rule“: Taucht mehr als ein sexualitätsbezogenes Schimpfwort auf, ist der Film R-rated und für Jugendliche erst ab 17 Jahren zugänglich. Um ein größeres Publikum zu erreichen, verzichtet Hollywood also bevorzugt auf Umgangssprache und liefert stattdessen eine glattgebügelte Variante der Alltagsrealität. Alternativ spielt man auch mal ironisch mit dem einen erlaubten „Fuck“ (wie zuletzt in „Der Marsianer“). Oder man denkt sich: Wenn ich schon für zwei Schimpfwörter hochgestuft werde, dann hau ich doch direkt 200 davon rein.

Das ist im besten Falle subversiv, im Worst Case endet das in Klamotten wie „Dirty Grandpa“, in dem Robert De Niro als Witwer seinen Enkel auf einen „Fickfeldzug“ durch Florida entführt, bei dem der Oscarpreisträger („Wie ein wilder Stier“) mit Dirty Language um sich wirft, so als sei das Tourette-Syndrom keine Krankheit, sondern Status Quo. Aber auch die Damen im europäischen Kino nehmen schon längst kein Blatt mehr vor den Mund. In „Lolo“ verliebt sich Violette (Julie Delphy) in einen Mann und erzählt ihrer Freundin beglückt: „Er hat mich geleckt”, und das, obwohl sie gerade ihre Tage gehabt habe. Also, lenkt sie noch ein, nicht am ersten Tag hätte er sie dermaßen beglückt, aber am Ende, als sie kaum noch geblutet habe.

Nun, wollen wir das wirklich so genau wissen? Irgendwann einmal, als der Mainstream noch bieder und prüde war, war so etwas tabu. Dann irgendwann nicht mehr. Auf einmal legte Meg Ryan in „Harry und Sally“ den Fake-Orgasmus hin, im Fernsehen erntete Ingo Appelt jedes Mal einen Lacher, wenn er „ficken“ sagte, während sich möchtegernmoderne Großstadtfrauen aufgesetzt freizügig durch „Sex and the City“ glucksten. Schon bald wurde das Tabu zur Norm, und inzwischen benennt jeder allerorten Geschlechtsteile und sexuelle Vorlieben, ohne dabei rot zu werden. Das ist begrüßenswert. Aber nur, solang derlei verbale Wanderungen durch die Feuchtgebiete nicht zum puren Selbstzweck verkommen. Meg Ryans gespielter Orgasmus war noch ein motivierter Teil der Handlung. Inzwischen aber setzt jede zweite Komödie auf den Appelt-Effekt, der beim hysterischen Kreischen des Publikums nach jedem F***-Wort doch nur eines entlarvt: die biedere Verklemmtheit dahinter. Auch Dramen ziehen munter mit und meinen, die Geschlechtsorgane ihrer Protagonisten regelmäßig benennen zu müssen, um auf Teufel komm raus up to date zu sein. Sei es im zitierten „Lolo“ oder zuletzt in dem Coming-of-Age-Drama „The F-Word“, in dem sich Daniel Radcliffe endlich von Harry Potter emanzipieren durfte, indem er „Penis“ und „Vagina“ sagt.

Weit davon entfernt sind fünf junge, türkische Schwestern in dem Drama „Mustang“. Um jegliche Verdorbenheit vorzubeugen, sperrt sie der Onkel ein und ihr sexuelles Erwachen weg. Zucht, Jungfräulichkeitstest und Zwangsheirat statt Fake-Orgasmus & Co. So prallen auf der Leinwand Welten aufeinander. Gegensätzlich, aber gleichermaßen verkrampft. In der Hoffnung auf Entspannung allerorten,

Hartmut Ernst

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