Stellen Sie sich mal vor einen Spiegel, der Ihre inneren Werte zeigt. Was sehen Sie? Einen aufgeklärten Menschen mit einem gerüttelt Maß an gesundem Menschenverstand und einer soliden Auffassungsgabe. Bildung ist vorhanden, Intelligenz auch. Sie sind kein Genie, aber auf keinen Fall zählen Sie zu den Idioten da draußen. Ihre Ansichten sind vernünftig, Sie haben Prinzipien und starke Meinungen, aber natürlich sind Sie nicht ideologisch verblendet. Kurzum: Sie sind ein verantwortungsbewusster, informierter Bürger. Schade, dass nicht alle so sind wie Sie und Ihre Freunde. Man muss ja nur einen Blick ins Netz werfen: Alles voller Deppen, Schreihälse, Hetzer.
Und was glauben Sie wohl, was einer dieser Trottel sieht, wenn er vor einen solchen Spiegel tritt? Einen aufgeklärten Menschen, verantwortungsbewusst und vernünftig! Wie kann das sein? Leider gibt es diesen Spiegel nicht. Die Reflexion, die wir sehen, entsteht nicht auf einer Metalloberfläche, sondern in unserem Kopf.
Eingeschränkte Sicht
Wenn wir aber alle so gute, kluge Menschen sind, wo kommen dann all die bösen, dummen her? Auch die entstehen im Hirn. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Medien, die wir konsumieren und mitgestalten. Insbesondere die sozialen Medien wollen uns bloß eine gute Zeit bescheren. Sie zeigen uns das, was uns potenziell gefällt. Doch Facebook, Youtube und Co. sind nicht schuld an unserem verengten Blick auf die Welt, sie bedienen nur ein menschliches Bedürfnis. Als Veganerin gehen Sie ja auch nicht zur Viehzuchtmesse und als BVB-Fan machen Sie wohl einen Bogen um blau-weiß dekorierte Kneipen.
Wir filtern das heraus, was uns missfällt, und die Algorithmen der Online-Dienste machen kräftig mit, bis wir uns in einer Wohlfühlblase befinden, die uns verlässlich von allem abschirmt, was nicht in unser Weltbild passt. Und bis wir verlernt haben, uns mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Das bedeutet nicht, dass andere Meinungen immer richtig oder legitim sein müssen. Allerdings ist der verbreitete Umgang mit ihnen einer Bildungsgesellschaft einfach nicht (mehr?) würdig.
Auch hierbei verstärkt die digitale Welt das Schlechte im Menschen. Twitter und Facebook haben die Denkfaulheit, das Lagerdenken und die Anfeindung nicht erfunden. Aber sie fördern sie. Die Filterblase vermittelt uns den Eindruck, unsere Meinung wäre die der Mehrheit. Das fehlende echte menschliche Gegenüber macht uns mutiger – oder dreister – bestimmte Dinge zu äußern. Und Däumchen, Herzchen und Aufrufzählchen für emotionale Ausraster schmeicheln messbar das Ego, auch wenn das auf Kosten einer sachlichen Debatte geht.
Weg von der Cancel Culture
An dieser Stelle möchte ich, anknüpfend an das Spiegel-Bild, nur einen Appell loswerden: Wer eine andere Meinung hat als Sie, ist nicht Ihr Feind. Wer für weniger Einwanderung ist, ist nicht zwingend ein Nazi, und wer für Elektroautos ist, will nicht unbedingt die Verbrenner mitsamt ihren Haltern in der Schrottpresse entsorgen. Karl Popper wird oft auf sein Toleranzparadoxon reduziert. Dabei sollten viele derjenigen, die es zitieren, sich auch diese von dem Wissenschaftsphilosophen aufgestellte Debattierregel zu Herzen nehmen: „Jeder Mensch hat das Recht auf die wohlwollendste Auslegung seiner Worte.“
Da man aber feststellen muss, dass selbst so etwas scheinbar Selbstverständliches solche Schwierigkeiten verursacht, sei die Annahme vom Anfang des Textes richtiggestellt: Es ist falsch, anzunehmen, dass nur die anderen Idioten sind. Richtiger wäre es, anzuerkennen, dass wir alle Idioten sind.
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