Der Andrang ist so groß, dass einige keinen Sitzplatz finden. Schon das zeigt die Brisanz des Themas. Die Kölner Silvesternacht 2015 – ein Vorfall, der ein ganzes Jahr eine Stadt und ein Land in Atem hielt. Eingeladen zum Gespräch hatte die Bundeszentrale für politische Bildung, die in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ einen Artikel zum Thema druckte. Verfasst hat diesen Christian Werthschulte, Politikredakteur bei der Stadtrevue und Gast. Weitere Teilnehmer sind Peter Pauls, Chefautor des Kölner Stadt-Anzeigers, sowie Mithu M. Sanyal, Autorin, Vergewaltigungsexpertin und, wie sie vorgestellt wird, Feministin.
„Im Fall der Kölner Silvesternacht hat sich eine unheimlich schnelle Dynamik entwickelt“, berichtet Pauls. Kein Journalist sei vor Ort gewesen, das hätte die Berichterstattung enorm erschwert. Alles, was die Medien an Informationen erhielten, habe auf Aussagen der Polizei und später auf Mutmaßungen bei Facebook und Co basiert, wo mitunter gefährliche Mythen verbreitet worden seien. Dass die Polizei überfordert war, dass sie teilweise sogar versagt habe, sei klar. Andererseits will aber auch niemand aus der Runde in der Haut der Ordnungshüter stecken.
Als erschreckend wird die Instrumentalisierung dieser einen Nacht wahrgenommen. Dass man mit ansehen muss, wie selbsternannte Bürgerwehren durch Köln marschieren, um für Ordnung zu sorgen und ihre deutschen Frauen zu schützen, so Pauls. Ein paar wenige Fakten gäbe es aber dennoch: die Zahl der Opfer. Ergriffen berichtet Pauls von einer Mutter und ihrer Tochter, die von den sexuellen Übergriffen betroffen gewesen seien, und wie sehr diese gelitten hätten. „Ich kann sehr gut verstehen, dass anfangs keiner wusste, was er sagen sollte“, so Mithu Sanyal, die zwar Rekers Vorschlag, einen „Abstand auf Armlänge zu halten“ für nicht besonders klug hält, aber ein gewisses Verständnis für manche Patzer aufbringt. Sie selber habe, als sie von den Vorfällen gehört habe, gedacht: „Ich warte erst einmal ein halbes Jahr ab, bevor ich mich dazu äußere.“ Und: „Ich hatte auch als Journalistin Angst“, gibt sie zu: „Ich habe noch immer ganz viele Fragen an diese Nacht. Beantwortet das Ihre Frage?“ Gelächter. Mit dieser Aussage bringt sie das Problem selbstreflexiv auf den Punkt: Wie schwierig es für Medien ist, vernünftig über das Ereignis zu berichten. Pauls geht in diesem Zusammenhang auf den Pressekodex ein, der Journalisten eigentlich korrekterweise davon abhalten soll, Minderheiten zu diskriminieren, aber um den immer noch immer viele streiten.
Die Kölner Silvesternacht 2015 – eine Nacht und viele Schatten. Eine der Folgen ist auch die der verschärften Sicherheitsvorkehrungen. Der Gipfel dessen: die sehr plump anmutende und pauschale Kontrolle von Nordafrikanern. Die Fragen, die durch den Raum schweifen, sind: Markiert die Kölner Silvesternacht das Ende der Willkommenskultur? Und: Werden nächstes Silvester wieder sogenannte „Nafris“ wie vermeintliche Täter behandelt und unter Generalverdacht gestellt? Sanyal, Tochter einer Polin und eines Inders, sagt, sie habe dies ebenfalls als diskriminierend empfunden, da sie sich als Ausländerin stigmatisiert gefühlt habe. Plötzlich habe sie überall ihren Ausweis vorzeigen müssen, das habe ein sehr flaues Gefühl in ihr ausgelöst. Klug resümiert sie: Es dürfe nicht nur „die bösen Muslime“ heißen. Das sei rassistisch und gefährlich. Andererseits aber auch nicht nur: „Die bösen Rassisten.“ Mit diesen Verallgemeinerungen käme man nicht weiter. Das Thema müsste ernst genommen werden. Statt Kontrollen im Nachhinein an vermeintlichen Tätern solle es besser präventive Vorarbeit geben und Gespräche. Das ist doch mal ein vernünftiger Satz einer Journalistin zur Kölner Silvesternacht.
Köln-Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der bpb: www.bpb.de/apuz/239692/koeln
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Feministin ist fein
Was für ein schöner Artikel.
Ich möchte nur richtig stellen, dass ich kein Problem damit hatte, als Feministin vorgestellt zu werden, sondern als Düsseldorferin.
Feministin ist fein. Düsseldorferin auch. Aber nicht in Köln;-)
Mithu Sanyal
Schluss mit Mr. Nice
Loyle Carner im Carlswerk Victoria — Musik 01/23
„Weil es so sehr menschelt“
Christina Bacher über ihre Arbeit als Draussenseiter-Chefredakteurin – Spezial 01/23
„Wir haben eine Überlagerung verschiedener Krisen“
Klaus Wilsberg über die aktuelle Situation von Studierenden – Spezial 10/22
„Wir brauchen dringend Helfer“
Karin Fürhaupter über die aktuelle Herausforderung der Kölner Tafel – Spezial 08/22
Support durch Bierdeckel
Aktion für Krankenhauspersonal – Spezial 06/22
Theater von und für Frauen
Die BUSC zeigte im Stream das „Femme BUSCival“ – Bühne 03/21
Wie Frauen zu sein haben
Jovana Reisingers zweiter Roman „Spitzenreiterinnen“ – Wortwahl 03/21
Architektonische Juwelen
Entdeckungsreise zu Kölner Kirchen
#WeSitWithYou
Koreanerinnen erinnern an sexualisierte Kriegsgewalt – Teil 2: Lokale Initiativen
Autorinnen im Fokus
Weltfrauentag im Literaturhaus Köln – Literatur 03/20
„Wenn wir streiken steht die Welt still!“
Frauen*streikbündnis demonstriert am Weltfrauentag – Spezial 03/20
„Feminismus ein Gesicht geben“
Jasmin Mittag über die Ausstellung „Wer braucht Feminismus?“ – Interview 03/20
Höchste Zeit zu Handeln
Entwicklung des Otto-Langen-Quartiers stagniert – Spezial 01/23
Grimmige Entschlossenheit und Volksfeststimmung
Demo gegen die Räumung von Lützerath – Spezial 01/23
„Wir werden uns der Abbagerung in den Weg stellen“
Linda Kastrup über die geplanten Klima-Proteste in Lützerath – Spezial 01/23
Die letzte Generation?
#streitkultur im Urania Theater mit Gerhart Baum und Bettina Weiguny – Spezial 11/22
Existenzgefährdender Beschluss
Land NRW streicht Förderungen – Spezial 11/22
Recht auf Ausdruck
Das Projekt UNIque@dance – Spezial 11/22
Fragen an Baerbock
Außenministerin beim Bürger:innendialog in Bonn – Spezial 10/22
Vollkommen normal
Rhein Kompanie: Schauspielausbildung für Menschen mit geistigen Behinderungen – Spezial 10/22
„Die Kunst gehört zum Leben dazu“
Aktion von Housing First Art für einstmals obdachlose Menschen – Spezial 10/22
Emotionaler Appell von Kölner Kinderchor
Musikvideo „Mer künnte Fründe weeden“ – Spezial 09/22
Die Erwartungen sind gering
Kulturschaffende in der Energiekrise – Spezial 09/22