Wie fühlt es sich an, als letzter seiner Art zu sterben? Einsam dem Untergang der eigenen Zivilisation beizuwohnen? Lonesome George, eine Riesenschildkröte von den Galapagos-Inseln, starb als letztes Exemplar seiner Gattung 2012. Der junge Autor Bonn Park errichtet dem vorzeitlichen Untier nun ein Epitaph. Sein Stück „Traurigkeit & Melancholie“ feiert George als hunderttausende Jahre alten Beobachter der Evolution, der nur noch sterben will. Eiszeit, Rom, Waterloo, Phnom Pen, Krim – alles gesehen. George, das sind Maya, Daniel und Hajo – gespielt von Maya Haddad, Daniel Breitfelder und Hajo Tuschy. Sie hocken in ihren gelbgemusterten Kostümen mit Gras-Epauletten auf einem Sofa, mitten in einem grauen Tempel mit Säulen. Jeder darf an dem Abend mal ran, darf sich den Panzer streicheln, das Kinn graulen lassen – bis der Buzzer ertönt. Dann erzählt das Trio eine wiederkehrende Rapunzelstory. Was zunächst ins comichafte Showformat aufgedreht ist, wird allmählich immer lustloser und öder. Dazwischen kauert George am Tempelrand, während Autos vorbeirasen und Musikfetzen aus der gesamten Musikgeschichte zu hören sind. Dann geht Maya ihm an die Wäsche, doch er dreht desinteressiert den Kopf einfach nur nach vorne, um zu fressen – bis die Blumen zwischen Mayas Beinen sprießen.
Bonn Parks Stück strahlt die komische Müdigkeit einer kulturkritischen Dekadenz aus. Regisseurin Mina Salehpour findet dafür eine gelungene Balance zwischen Überdrehtheit und Trauer, die sich jeder Sentimentalität verweigert. Immer wieder spielt die Inszenierung mit dem Motiv der vergehenden Zeit, dehnt die Szenen oder beschleunigt sie, lässt sie in Sprachschleifen und Wiederholungen stranden. Die Einsamkeit und der Narzissmus sind die zweite Spur des Abends. Sehr düster etwa Georges Geschichte einer gelingenden Kommunikation, die zur Zweisamkeit, zur Familie führt, bis doch die ganze Welt in grenzenloser Selbstliebe implodiert. Und am Ende steht eine so groteske wie endlose kapitalistische Tauschgeschichte, die in eine finale Katastrophe mündet. Aber vielleicht ist George ja gar kein Individuum sondern nur ein gelangweilter Buddha.
„Traurigkeit & Melancholie“ | R: Mina Salehpour | Theater Bonn Werkstatt | WA ab 2.10. | 0228 77 80 08
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Drei Szenen aus der Scheibenwelt
Werner Schwabs „Die Präsidentinnen“ in Bonn – Theater am Rhein 11/17
Allein ist im Wald niemand
„Der Zorn der Wälder“ von Alexander Eisenach in Bonn – Theater am Rhein 03/17
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24
Wo ist Ich?
„Fleischmaschine“ am FWT – Theater am Rhein 02/24
Falle der Manipulation
„Das politische Theater“ am OT – Theater am Rhein 02/24
Wiederholungsschleife
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/24
Radikaler Protest
„Ein Mensch ist keine Fackel“ in der Orangerie – Theater am Rhein 01/24
Emotionale Abivalenz
„Sohn meines Vaters“ in Köln – Theater am Rhein 01/24
Übung in Demokratie
„Fulldemo.cracy“ am Studio Trafique – Theater am Rhein 01/24
Welt ohne Männer
„Bum Bum Bang“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 12/23
Was ist hinter der Tür?
„Die Wellen der Nacht …“ in der Orangerie – Theater am Rhein 12/23
Weiter mit der Show
„Von Käfern und Menschen“ am TiB – Theater am Rhein 11/23
Ende der Zivilisation
„Eigentum“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 11/23
Menschliche Abgründe
„Mister Paradise“ am FWT – Theater am Rhein 11/23
Waffe Mensch
nö Theater in der Stadthalle Köln – Theater am Rhein 10/23
Trauma und Identität
„Mein Vater war König David“ in Köln – Theater am Rhein 10/23
Komik der Apokalypse
„Die Matrix“ im Theater der Keller – Theater am Rhein 10/23
Rechtfertigung auf Skiern
„Der Nachbar des Seins“ am FWT – Theater am Rhein 08/23
Das digitale Paradies
Ensemble 2030 im Theater der Keller – Theater am Rhein 07/23
Metaebene der Clowns
„Clowns“ in der Studiobühne – Theater am Rhein 07/23
Identitäre Spiegelungen
„Der blinde Fleck“ in der Orangerie – Theater am Rhein 06/23
Frauen und Krieg
„Die Troerinnen“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 06/23
Perforierte Sprachgrenze
Die Studiobühne zeigt „Total“ – Theater am Rhein 05/23