Authentizität ist derzeit der Bitcoin der Kulturkritik. In der Literatur gelten Clemens Meyer und Philipp Winkler schon deshalb gesetzt, weil sie über angebliche Streetcredibility verfügen und damit den Voyeurismus des Bürgertums bestens bedienen. Vielleicht ist deshalb die Kamera in Nuran David Calis‘ Inszenierung von Winklers Roman „Hool“ allgegenwärtig. Während die Hauptfigur Heiko im Roman familiäre Gefühle nur für seine aus (fast) allen gesellschaftlichen Schichten kommenden Hooligankumpane von Hannover 96 empfindet, ist hier das Kameraauge sein engster Freund. Es vervielfacht ihn, bläst ihn zu Übermenschengröße auf, hat keine Angst vor Nähe – Authentizität ist ein Kunst- bzw. Medienprodukt. Die Kamera ist Heikos einziges Gegenüber, auch wenn Winklers Held im Kölner Schauspiel gleich von drei Darstellern verkörpert wird: Simon Kirch, Justus Maier und Daron Yates. Sie fächern unterschiedliche Aspekte dieses Einsamen auf, verwandeln sich später aber auch in andere Figuren wie die bürgerliche Schwester, den versoffenen Vater, den Onkel oder Kai, der im Krankenhaus landet. Heiko switcht zwischen der schäbigen Häuslichkeit eines Pavillons mit Schaufensterpuppen, einem Boxring und Spinden mit Spiegel hin und her (Bühne: Anne Ehrlich).
Keiner der Orte wird letztlich als Spielort definiert. Es sind Stationen ohne konkretes Eigenleben. Auch das Versprechen einer intensiven Körperlichkeit wird nicht eingelöst. Stattdessen zerfällt der Abend allmählich immer deutlicher in dramaturgische Splitter und Flashs, die zwar ahnen lassen, dass Heiko immer tiefer in seinen Tunnel hinabsteigt – Bilder dafür aber findet Calis nicht. Hier rächt sich der exzessive Einsatz der Kameras, die ihr Objekt der Begierde zwar pausenlos verfolgen, ihm aber selbst im Close-up nicht nahekommen und zugleich jede andere Bildfindung verhindert. Als sein Freund Kai mit dem Tod ringt, andere Hools sich zurückziehen, bleibt Heiko dabei: „Ich habe null, weil ich für das hier lebe.“ Doch die Illusion, gesellschaftliche Erfahrung auf körperliche Unmittelbarkeit reduzieren und komprimieren zu können, bleibt an diesem Abend das, was sie zuvor schon war: Literatur.
„Hool“ | R: Nuran David Calis | 26., 30.1., 7., 14., 23.2. 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 284 00
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