Die Soldateska gießt den mit Erde belegten Bühnenboden, wirft sich anschließend in Lazarettbetten (Bühne: Igor Pauška) und brüllt kollektiv das Deutschlandlied – bis sie im Geschützfeuer schier den Verstand verliert. Oliver Frljić inszeniert im Depot „Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ von Bertolt Brecht in der Fassung von Heiner Müller. Thema ist das Verhältnis von Kollektiv und Individualität, das allerdings bereits dadurch konterkariert wird, dass die sieben DarstellerInnen (Yuri Englert, Benjamin Höppner, Nicolas Lehni, Seán McDonagh, Nika Mišković, Hannah Müller, Elias Reichert) alle Figuren spielen, Individualität also teilbar wird.Frljićs sehenswerte Inszenierung arbeitet mit dialektisch aufgerauten Bildern: Wenn die Deserteure in Kaumanns Wohnung flüchten, kuscheln sich ängstlich im Bett zusammen. Die Fleischer, bei denen Fatzer etwas zu essen besorgen soll, verarbeiten gerade einen Soldaten zu Nahrungsrationen.
Eines der zentralen Schlachtfelder des Abends ist der menschliche Körper. Er wird für den Krieg zugerichtet, ist der Ort des Begehrens, dient als Nahrungsquelle, ist Produktionsmaschine, wenn die Truppe in Korsagen wild rammelt und Babypuppen hervorploppen – während Texte von Zetkin bis Beauvoir zur Frauenfrage zitiert werden. Frljić holt den Krieg in den gesellschaftlichen Innenraum und lässt andererseits Fatzers Individualismus in einen wütenden Monolog des Schauspielers Benjamin Höppner umkippen. Am Ende trotten die sieben Soldaten als Schweine in einen Pferch und singen die 1. Strophe des Deutschlandlieds – die Herde ist schlachtreif für den nächsten Krieg.
„Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ | R: Oliver Frljić | 6., 7., 19., 20.10. je 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
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